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Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S.94 ff.
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Die Metaphysik der Balance

Ordnung aus dem Nichts

Heute um­gibt den Liberalismusbegriff ein von Kueh­nelt-Leddihn so be­zeich­ne­tes "semantisches Chaos sonder­glei­chen." Ganz unter­schied­liche hi­storische Strö­mungen haben libe­ra­les Gedankengut auf­ge­nommen und ver­stellen den Blick auf den ge­dank­­li­chen Kern der li­be­ralen Metaphysik: "der Präliberalismus eines Adam Smith, noch be­vor das Wort im politi­schen Sinne aufgetaucht war; der Frühli­be­ra­lismus, der ka­tholisch und aristokra­tisch war (Tocqueville, Mon­ta­lem­bert, Acton); der wirtschaftlich stark inter­es­sierte Altlibera­lismus (Cob­den, Mill, Mises, Hayek), der einem politi­schen Relati­vismus zu­neig­te und manchmal auch deistische Züge aufwies; der Neu­li­be­ra­lis­mus (Röpke, Rüstow, Briefs, Villey), der sich sehr wohl des Früh­libe­ra­­lismus erinnerte und sich besonders im deut­schen Raum entfal­te­te, wo er auch für das Wirt­schaftswunder pri­mär ver­antwort­lich war und schließlich ein Pseu­doliberalismus, der ameri­ka­ni­sche Wur­zeln be­sitzt und zu­neh­mend auch in Europa sein Unwesen treibt." [1] Als "Pseudo-" be­zeich­net Kuehnelt-Leddihn, was sich heute in den USA unter "liberal" tum­melt, weil er als ari­stokratischer Früh­libe­raler mit den scheußlichen Links­­li­beralen noch nicht einmal den Sammelnamen ge­mein haben möchte.

Gerade im Zeitalter des bürgerlichen Liberalismus waren viele unter ande­rem auch ein bißchen liberal, oder sie waren liberal, aber nur auf ei­nem iso­lierten Gebiet wie dem der Ökonomie. Hier gilt es den Kern der Ge­mein­sam­kei­ten zu erkennen, der den philo­so­phi­schen Liberalismus ei­gentlich aus­macht. Nur diesen ideal­typi­schen, zu Ende gedachten Libera­lismus meinen wir. In den liberalen Ideenkreis ge­hören alle An­schau­un­gen, die allein aus proze­duralen Form­prinzipien so etwas wie Wahrheit, Gemein­wohl oder Ge­rechtigkeit schöpfen möchten. Die li­berale Or­tho­doxie läßt nach Dono­sos Bon­mot die Ge­sell­schaften sich selbst regie­ren durch Ver­nunft, die auf ei­ne all­ge­meine Weise den Fi­nanz­starken anver­traut ist und auf eine be­son­dere Weise den In­tel­lek­tuel­len, wel­che diese un­terrichten und lei­ten. Diese ver­künden kraft des Dogmas von der Ba­lance, daß die Wahrheit aus dem ewigen Ge­spräch und daß die politi­sche Ordnung aus dem Chaos der ge­sell­schaft­­li­chen Kräfte ex ni­hi­lo her­vorgeht, so wie die unge­zügelten Ein­zel­­interes­sen das Ge­mein­wohl er­zeu­gen. Einer dieser Intellektuellen ist der Amerikaner Murray Roth­bard gewesen. Sein Libertarianism "strebt die Ma­ximierung der individuellen Frei­heit an und gliedert sich grob in Miniarchismus (laissez-faire-liberaler Mini­mal­staat) und An­ar­cho­kapitalismus", also "die Übernahme aller Staats­funktionen wie Po­li­­zei, Ge­richtshöfe etc. durch Anbieter auf dem freien Markt." [2] Da­mit zeigt er idealtypisch die Tendenz liberaler Prämissen auf, und wo­hin diese füh­ren, wenn man sie konse­quent durchhält und absolut setzt.

Den welt­an­schaulichen Kern dieses Libera­lismus bildet der Glaube, aus der frei­en Aktivität aller Kräfte und Gegenkräfte entstehe von selbst im all­ge­meinen jede Art von Harmo­nie, in der Diskussion die voll­kommene Wahr­heit und im Gesell­schaft­li­chen das Ge­meinwohl. [3] Kondylis hat diese Denkstruk­tur aus dem pole­mischen Be­dürfnis des Bürgertums des 18. Jahr­hunderts auf Teilhabe an der Macht abgeleitet: Es fand eine ständi­sch ge­gliederte Gesell­schaft vor. Sein sozia­ler Erfolg stieg mit der ideologi­schen Durchsetzung einer Denkfigur, die ihm einen aussichtsreichen gesell­schaft­lichen Platz sichern mußte. Die mittelalterliche und früh­neuzeitliche Adels­gesell­schaft hatte noch auf einer Hierarchie beruht, in der das Bür­gertum nur einen macht­losen Zuschauer­platz hatte. Dagegen richtete sich pole­misch sein neues Weltbild: In ihm bestanden zwar die Standes­unterschiede sub­stanziell wei­ter. Sie verfestigten sich aber nicht, sondern "gestalteten sich im Rahmen ei­ner Konkurrenz, die ihrerseits nicht in dem Kampf aller ge­gen alle, sondern in ein dynamisches Gleich­gewicht" münden sollten, in der das Bürgertum seinen festen Platz hatte. Die "synthetisch-harmonisie­rende" Denk­figur ist "grund­sätzlich bestrebt, das Weltbild aus einer Viel­falt von unterschiedli­chen Dingen und Kräften zu kons­truieren, die zwar isoliert betrachtet sich im Gegensatz zu­einander befinden (können), doch in ihrer Gesamtheit ein har­monisches und gesetz­mäßiges Ganzes bilden, innerhalb dessen Friktionen oder Konflikte im Sinne überge­ordneter ver­nünftiger Zwecke ausgehoben werden. Dieser Glaube grün­det sich auf die teleologische Vorstellung ei­ner Hetero­gonie der Zwecke. Wir ha­ben sie bereits als un­entbehrliches Re­quisit von Nor­mativismen kennenge­lernt. Hier besagt er, "eine un­sichtbare Hand ver­wandle das Chaos der an sich eigen­nützigen oder kurzsichtigen Handlungen der Einzelnen in ein har­moni­sches Gleichgewicht." [4]

Der Liberalismus ist ein um­fas­sen­des und kon­se­quen­tes metaphysisches Sy­stem. [5] Aus ihm folgt, daß aus dem "frei­en Kampf der Mei­nungen die Wahr­heit ent­steht als die aus dem Wett­be­werb sich von selbst ergebende Har­mo­nie." Es darf kein ein­ziger Mei­nungsbeitrag feh­len, sonst ist die Er­kenntnis der Wahr­heit in Ge­fahr. Der Wesens­grundsatz liberaler Ordnung besteht darin, schrieb Mer­cier de la Rivière 1767 ganz in diesem Sinne, "daß der Vor­teil des einzelnen niemals vom Vor­teil aller getrennt wer­den kann, und dies ergibt sich unter der Herr­schaft der Freiheit. Die Welt läuft dann von selbst."

Die Diskurstheorie behauptet als moderne Variante dieses li­be­ra­len Ba­lan­ceglau­bens, daß die Wahrheit aus dem freien Kampf der Mei­­nungen, selbst der dümmsten, und daß die politi­sche Ordnung aus dem Chaos der ge­sell­schaft­lichen Kräfte ex ni­hi­lo her­vor­geht. Ein Wun­der ist das nur für Ungläu­bige. Wer aber meint, daß aus jedem chaotischen Durch­ein­an­der und Gegen­ein­ander eine nor­mative Ord­nung von allein entsteht, wenn man das Durch­ein­ander bloß kausal frei wal­ten läßt, wer also an eine ordnende Te­leologie glaubt, an ein werthaftes Prinzip, das aus einem Nichts her­aus ganz von al­lein unser Dies­seits sor­tiert: dem klingt das ver­nünftig.

Ob jemand daran glaubt, bei gehöri­gem Beten schwebe un­sichtbar der hei­lige Geist durch die Decke und beehre uns mit seiner Anwe­senheit, oder ob ein ande­rer glaubt, bei der Diskussion stelle sich die Wahrheit von selbst ein, er­fordert quan­ti­tativ ein gleiches Maß an Glau­bensstärke. Und ob einer glaubt, Gott habe die Welt ex nihilo ge­schaffen, oder ob ein ande­rer glaubt, das freie Kräftespiel er­zeu­ge ex nihilo eine werthafte Ordnung: Das Prinzip Glauben ist das­selbe, ob man an ein substanz­haftes Jenseits glaubt oder an die "ge­heim­nis­volle Ur­zeu­gung des Stoffs aus der Form." [6] Niemand kann sich aber durch einen Akt rei­nen Denkens einen Wert schaffen, der au­ßer in sei­nem Kopf auch draußen wirklich vor­handen wäre. Es kön­nen darum auch nicht Viele durch gemeinsames Denken und Über­ein­kunft eine moralische Idee zu ei­nem realen Ding machen.

Kant hatte sich dasselbe sogar allein zugetraut: Durch mo­no­lo­gi­sches Nach­den­ken im stillen Stu­dier­stüb­chen wollte er wie mit einem ins Trans­zen­dente ge­richte­ten Fern­rohr die Tugend am Ideenhimmel erkennen. Er über­schätzte mensch­liche Fä­hig­keiten ebenso maßlos, wie derjenige, der durch ge­mein­sames Nach­denken und schließlichen Kon­sens einen Wert schaf­fen möchte. Genau diese alchimistische Idee aber hatte Kant: Durch ein richtig angewandtes for­ma­les Ver­fah­ren lasse sich die Vor­stel­lung von et­was sub­stanzhaft Wah­­rem gewin­nen. Richtig angewendete Ver­­fah­rens­prinzipien schaff­ten dasselbe, glauben die proze­duralen Ge­rech­tigkeits­theo­rien. Kant mein­te die Existenz allgemeingültiger Tu­gen­den, ein sub­stanzielles ethi­sches Was, allein aus dem pro­ze­du­ra­len Wie ent­wickeln zu kön­nen. [7] Das Wie lau­tete in seiner 'Kritik der prak­tischen Vernunft': Hand­le so, daß die Maxi­me dei­nes Willens je­der­zeit zu­gleich als Prin­zip einer all­ge­mei­nen Gesetzge­bung dienen könn­te." Am Anfang allen ethi­schen Nach­den­kens steht danach nicht ein "inhaltliches mo­ra­lisches Prin­zip, son­dern ein Ver­fahren:" [8] Wie Athe­ne dem Haupte des Zeus, so ent­springt Kants Moral ex nihilo dem Pro­zeß des reinen Nach­­den­kens. Die Dis­kurs­theo­rie brauch­te daran nur an­zu­knüpfen und an Stelle des ein­sam sei­nen kate­go­­ri­schen Impe­rativ aus­brü­ten­den In­di­vi­du­ums ei­ne fik­tive Kon­sens­­findungs­ge­nossen­schaft zu setzen.

Ohne mit­ge­brach­te meta­physische Vor­ver­­ständ­­nisse sind die kon­kre­ten Inhalte al­ler kate­go­rischen Impe­rative und die Re­sul­tate aller Dis­kurse aber inhaltlich be­liebig. Kants Grundprämisse besteht schon da­rin, daß es da über­haupt ein sub­stanz­haftes, transzendentes Was gebe: Eine Moral, die durch voraussetzungsloses Denken bloß er­kannt und nicht erst geschaffen werden muß. Überdies durch­schaute be­reits Scho­pen­hau­er, daß Kants "kategorischer" Imperativ tat­säch­lich nur ein hy­po­the­­ti­scher ist, weil er ei­ne inhaltlichen Vor­aussetzung mit­bringt: Je­der sol­­le zur Richt­schnur sei­nes Han­delns machen, was zum allgemeinen Ge­­setz für alle vernünftigen Wesen gemacht werden könn­te, hat näm­lich einen egoisti­schen Zweck: Ich denke mir die­je­nige Regel aus, bei der ich in möglichst vielen Fällen am besten da­stehe. Daß vor­sichts­hal­ber niemand einem anderen ein Leid antun soll, sagt mir darum mei­ne Vernunft, nachdem ich von den beiden Vor­­aus­set­­­zun­gen aus­ge­gangen bin: Ich benötige eine möglichst all­ge­mein­­gül­­­ti­ge Re­gel zur Wah­­rung meines Ei­gennut­zes, und ich könnte ein­mal der Schwä­­chere sein. "Hebe ich aber diese Vorausset­zungen auf und denke mich, et­wan im Ver­trauen auf meine überle­genen Gei­stes- und Lei­bes­­­kräf­te, stets nur als den akti­ven und nie als den pas­si­ven Teil ... , so kann ich, vor­aus­gesetzt daß es kein anderes Fun­da­ment der Moral als das Kan­ti­sche gebe, sehr Ungerech­tigkeit und Lieb­­lo­sig­keit als all­ge­mei­ne Maxime wol­len und demnach die Welt regeln." [9]

 


[1] Kuehnelt-Leddihn, Liberalismus auf amerikanische Art, Criticón 1991,105 f..

[2] Winterberger, Einer der Väter des modernen Libertarismus, Criticón 1995,21.

[3] Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage, S.45 ff.

[4] Zitate in diesem Absatz: Kondylis, Der Untergang, S.15 f., 34.

[5] Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage, S.45 ff.

[6] Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, S.214.

[7] Kaufmann, Grundprobleme ..., S.158, 207, 225; Welzel, Naturrecht .., S.169.

[8] Ellscheid, Das Naturrechtsproblem, S.177.

[9] Schopenhauer, Über das Fundament der Moral, Werke Bd.7, § 7, S.183 ff..