Lange Str.28, 37170 Uslar, Inhaberin Heike Kunze
Telefon 05574-658, Telefax 05571-6327, Postkasten

 

Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S. 178 ff.
(Zurück zum vorangehenden Unterkapitel: Die ideologischen Gezeiten)

 

Die Humanitätsideologie

Die Humanitätsideologie ist der Schlüssel zum Verständnis dessen, was unseren heutigen Liberalismus ausmacht. An ihr entzündet sich all' sein Pa­thos, sie ist sein Rammbock und seine Monstranz zugleich. Gehlen be­­zeich­nete als Humanitarismus die zur ethischen Ver­pflich­tung ge­machte unter­schieds­lose Menschenliebe und wies ihre Her­kunft aus pietistisch-christ­li­chen Quel­len nach: Im Zuge der Auf­klä­rung ha­be sich bei den meisten Men­schen an der Stelle, die früher ein trans­­zen­denter Glau­be eingenommen habe, ein "emo­tionaler Hohl­raum" ent­wickelt. [1] Die Religi­on, vor allem die pro­te­stan­tische, ten­diert seitdem nach Beobachtung Russell Kirks [2] zum Pela­gia­nis­mus. "Der irische Mönch Pelagius verwarf im 5. Jahrhun­dert die Erb­sün­de und lehrte die Freiheit der menschlichen Natur zum Guten. So denkt der Pe­lagia­ner, nach Kirk, daß Glück durch Freundlichkeit, durch An­­pas­­sung an die Ge­mein­schaft und materielle Verbesserungen er­reicht wer­de, und in na­tio­na­len wie interna­tionalen Angelegenheiten wer­de alles gut gehen, wenn die Men­schen ihre Interessen im Geist gu­ten Wil­lens erörtern und ausgleichen woll­ten." [3] Wir erkennen leicht, wie bruchlos sich schon da­mals die Ver­satz­stücke des Glau­bens an den guten Men­schen und die Über­zeugung, har­mo­ni­sche Ein­tracht kön­ne in jedem Fall durch gutwillige Ge­spräche erreicht wer­den, zu dem Komplex einer Ersatzreli­gion zu­sammen­backen lie­­ßen. Die­ libe­ra­le ging bruchlos aus aufklärerisch-schwär­meri­schen Theo­lo­gen­­krei­sen des 18. Jahrhunderts hervor, denen wie Pelagius "das Bild ei­ner kon­stanten und be­rechenbaren menschlichen Natur" vor­schwebte, "die sich ohne weiteres mit den ebenso unverän­der­lichen Ver­­nunft­prin­zipien verbinden ließ." [4]

Während die Theologen ein dualistisches Weltbild hatten und das Gött­liche außerhalb des Menschen im Jenseits suchten, verlegten es mo­ni­sti­sche Metaphysi­ker in den Menschen: Sie schrieben der Na­tur des Menschen bisher Gott vorbehal­tene Prädikate zu wie die Sitt­lich­­keit, die Freiheit und die Humanität und erhoben statt Gott eine be­­stimm­te Idee vom Menschen in den Rang religiöser Verehrung. Je­dem erlegten sie mit den Worten Stirners die moralische Pflicht auf: "Du sollst ein ganzer, ein freier Mensch sein." So proklamierten sie eine neue Religion, ein neues Absolutes, ein Ideal, nämlich die Frei­heit. Wie die Christen Missionare ausgesandt hatten, weil die Men­schen Christen werden sollten, so erstanden jetzt Missionare der Frei­heit. Diese könnte dereinst, sah Stirner 1844 voraus, "wie bisher der Glau­­be als Kirche, die Sittlichkeit als Staat, so als eine neue Ge­mein­de sich konstituie­ren und von ihr aus eine gleiche 'Propaganda' be­trei­ben." Könne man das neue Ideal finden, gäbe es eine neue Religion, "ein neues Sehnen, ein neues Abquälen, eine neue Andacht, eine neue Gott­heit, eine neue Zerknirschung. Mit dem Ideal der 'absoluten Frei­heit' wird dasselbe Unwesen getrieben, wie mit allem Absoluten, und nach [Moses] Heß z.B. soll sie »in der absoluten menschlichen Ge­sell­schaft reali­sierbar sein.«" [5]

Die neue Religion ist für ihre Priester so nutzbringend wie jede Re­li­­gi­on. Eine freihändlerisch inspirierte Menschenrechtsmoral kann ei­nen po­tentiellen Angreifer friedlich und harmlos machen - fett und im­po­­tent, wie Churchill über seine Wunschdeutschen zu sagen be­lieb­te. Sie taugt auch, je nach dem, wer sie benutzt und wie er sie wendet, her­­­vorragend zur Begründung mora­lisierender Kreuzzüge. So steht der polemisch funktionalisierte Be­griff der Menschenrechte in einem Span­­nungs­verhältnis zu ebenso po­le­misch benutz­ten Begriffen der­je­ni­gen Menschen­gruppen, die nicht unter Be­rufung auf Men­schen­rech­te militärische Interven­tionen dul­den möch­ten. Sie setzen der ideo­lo­gi­schen Berufung auf die Men­schen­­rechte die ebenso ideologische Be­­rufung zum Beispiel auf das Selbst­­bestim­mungs­recht oder das Recht auf Nicht­ein­mi­schung in die in­ne­ren An­gelegenheiten entgegen. So­­­weit sich die Men­schen­rechte als Legitimation militärischen oder öko­­­nomischen Druckes in­ter­na­tio­nal durch­setzen, "stufen sie da­mit not­­wendiger­weise Ideologeme wie Sou­­ve­­ränität zu lokalen Phä­­­no­me­nen herab und be­grenzen sie auf Sub­mi­lieus." [6]

Wie der Einzelmensch ist auch ein Volk unfrei, wenn es nicht an sei­ne eigenen Götter glaubt, an seine eigene Moral, an sein ei­genes Recht. "Rom stürzte", bemerk­te Donoso 1851, "weil seine Götter stürzten; seine Herr­schaft endete, weil seine Theo­logie ein Ende nahm." [7] Das hatte schon Heraklit gewußt: Ein Volk solle um seinen Nomos kämpfen wie um seine Mauern. Die geistige Integrität einer Grup­pe ist so wichtig wie seine physi­sche. Dieser "Begriff umfaßt na­tür­­lich die Traditionen und Über­lieferungen eines Verbandes ebenso wie seine Ehre, und ein Volk ge­walt­sam von seiner Geschichte ab­zu­tren­nen oder zu entehren be­deu­tet dasselbe, wie es zu tö­ten." [8] In diesem Sinne bemerkte Geh­­len zum Zusammenhang zwischen dem Anspruch einer Nation auf ihre eigene Moral und ihrer Selbst­be­haup­tung: "Es ist die be­deu­tend­ste geschichtliche Leistung einer Na­tion, sich überhaupt als eine so ver­faßte geschichtliche Einheit zu hal­ten, und den Deutschen ist sie nicht geglückt. Die Selbsterhaltung schließt die geistige Behauptung und das Bekenntnis einer Nation zu sich selbst vor aller Welt ebenso ein, wie die Sicherheit im groß­po­li­ti­schen Sinne, und diese besteht in der Macht eines Volkes, den phy­si­schen wie den morali­schen Angriff auf sich unmöglich zu machen." [9] Wenn wir diese Zusammenhänge erst einmal durchschaut haben, er­blicken wir in jedem Versuch, uns eine fremde Ideo­logie aufzu­zwin­gen, einen frechen Angriff auf unser In­ter­esse an kollektiver Selbst­er­hal­tung. In "alter wie in neuer Zeit" sind "die Künste der Verführung und der sittlichen Herabwürdigung der Unterworfenen als ein Mittel der Herr­schaft mit Erfolg gebraucht worden. Man hat durch lü­gen­haf­te Er­dich­tungen und durch künst­li­che Verwirrung der Be­griffe und der Sprache die Fürsten vor den Völkern und diese vor je­nen ver­leum­det, um die Entzweiten sicherer zu beherrschen. Man hat alle An­triebe der Eitelkeit und des Eigen­nut­zes listig auf­ge­reizt." [10]

So hatten es die westlichen Besatzungsmächte nach 1945 er­folg­reich un­ter­nom­men, den deutschen Volkscharakter durch ein Bün­del von Maßnah­men zu verän­dern, an deren Ende die Aus­wechse­lung un­er­wünschter kollek­tiver Wert­entschei­dungen durch eine den Alli­ier­ten zu­träg­lichere Moral stand. Sie nah­men sich das Recht zur "ge­walt­sa­men Auf­er­legung ihrer eige­nen politi­schen Ideologie." [11] Pla­nung und Aus­füh­rung lagen bei dem durch die Mi­li­tär­­­regierung ein­ge­setz­ten ICD Scree­ning Center unter Lei­­tung des New Yor­ker Psychiaters David Mar­dochai Le­vy, einem füh­renden Psycho­ana­lytiker. Als ge­fährlich be­seitigt werden sollten "Dis­­ziplin, Ordnung, Sau­ber­keit und Männ­­lich­keit" als die "vier Prin­zi­­pien der deut­schen Erzie­hung, auf denen dann auch der deutsche Staat errichtet wurde." [12] Diese zu­nächst be­sat­zungs­­­ho­­heit­­lichen Maß­­­­nahmen wurden zum Selbst­läufer: Die Agi­ta­tion hatte so durch­­schla­­­genden Erfolg, daß sie sich bis heute tag­täg­lich in den Medi­en und Schu­len fortsetzt.

"Ein Volk ist er dann besiegt," formulierte Carl Schmitt schon vor der alliierten Besetzung Deutschlands, "wenn es sich dem fremden Vo­­ka­bulari­um, der fremden Vorstellung von dem, was Recht ist, un­ter­wirft. Dann kommt zu der Ablieferung der Waffen noch die Ab­lie­fe­rung des eigenen Rechts hinzu. In der heutigen Lage Deutschlands hängt alles davon ab, den Schleier der Worte und Begriffe, der Ju­ri­di­fi­zie­rungen und Moralisierungen zu durchschauen, nicht in hämischer Kri­tik, aber auch nicht in dienstfertiger Unterwerfung unter fremde Be­­griffe und Forderungen 'moralischer Abrü­stung', die nichts weiter sind als Instrumente fremder Macht." [13] Wenige haben den Zu­sam­menhang zwischen Macht und Moral so durchschaut. Der Be­siegte soll an eine Än­de­rung der Siegermoral noch nicht einmal mehr den­ken dürfen. Die erfolg­reich Um­erzogenen können es bereits nicht mehr. Um­fragen zu­folge hielten sich 50 Jahre nach Kriegsende 70% der Deutschen für "befreit" und nicht für be­siegt. "Die sogenannte Ver­gangenheitsbewältigung in Deutsch­land trägt alle Zü­ge einer kol­lek­ti­ven, ins Wahnhafte gehenden Um­deu­tung." Diese setzt psy­chi­a­­tri­scher Ansicht nach "ein ungeheueres Ag­gres­sionspotential" frei, das durch den "Prozeß von Sprach­re­ge­lung, Ver­drängung, 'Krei­de­fres­­sen' ent­steht. Solche Emotionen drängen zum Aus­bruch, und sie tun es oft in roher Gewalt." [14]

Überall in Medien und im Bildungswesen herrscht heute dieselbe pseu­dohumani­taristische Egalitäts­ideo­­­logie. Ihre Moral wird uns auf den konkre­ten Gebots- und Ver­bots­­tafeln entgegengehalten, wo und wann immer wir uns auf un­­­sere eigenen Interessen besinnen möch­ten. Diese Ideologie ist heu­te die ganz herrschende, und darum können wir sie nicht einfach be­­sei­tigen, indem wir ihren Gläubigen unseren Glauben ent­ge­gen­hal­ten. In offenem Kräfte­mes­sen Funda­men­talismus gegen Fun­da­men­­ta­lis­­mus ist der moralisie­rende Lich­ter­­ket­ten­li­be­ra­lis­mus nicht zu be­sie­gen, so­lange er über alle Machtmittel der Kom­­mu­ni­ka­tions­ge­sell­schaft ver­fügt. Gegen die in mo­ra­li­sie­ren­der Form vor­ge­tra­­gene Zumutung eines fremden Machtanspruchs hilft nur Mut zur gei­sti­gen Freiheit. So hoff­te auch Carl Schmitt - "dem mundia­len ame­rikanischen Inter­ven­tions­an­spruch antwortend - ... daß »die Erde immer größer bleiben wird als die Vereinigten Staa­ten von Amerika und daß sie auch heute noch groß genug ist für meh­rere Großräume, in denen frei­heitslie­bende Men­schen ihre ge­schicht­liche, wirt­schaft­li­che und geistige Substanz und Eigenart zu wah­ren und zu verteidigen wis­sen.« [15] Eine Hoff­nung, das war Carl Schmitts letzte Po­sition." [16]

 

 



[1] Gehlen, Moral und Hypermoral, S.79,130.

[2] Russell Kirk, Can Protestantism hold its own in a modern America, zit. nach Gehlen, Moral, S.131.

[3] Gehlen, Moral und Hypermoral, S.131 f.

[4] Kondylis, Die Aufklärung, S.571.

[5] Stirner, Der Einzige, S.268 f.

[6] Luhmann nach E.Straub, ebd. FAZ 2.2.1995.

[7] Donoso Cortés, Essay, S.10.

[8] Gehlen, Moral und Hypermoral, S.185.

[9] Gehlen, Moral und Hypermoral, S.103.

[10] Fichte, Reden an die deutsche Nation, 1. Rede, S.16.

[11] Gehlen, Moral und Hypermoral, S.185.

[12] Schrenck-Notzing, Charakterwäsche, S.132, 138, 141 u.a.

[13] Carl Schmitt, Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus, hier zit. nach Maschke, St.Jürgen und der triumphierende Drache, S.134, Fn.51.

[14] Meinhard Adler, FAZ-Leserbrief 29.4.1995.

[15] Carl Schmitt, Die letzte globale Linie (1943), in: ders., Staat, Großraum, Nomos, S.441 (448).

[16] Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, S.123.