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Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S. 186 ff.
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Entideologisierung und Reideologisierung
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Das postideologische Zeitalter

Der "Guerillakrieg" gegen "die soziale Vorherrschaft des Nor­ma­ti­vis­mus" ist uralt. [1] Auch die humanitaristische Zivilreligion kann nur durch untergründige Maul­wurfs­tä­tig­keit von innen ausgehöhlt wer­den. Diese Tä­tigkeit muß damit begin­nen, ihren ideo­lo­gischen Cha­rak­ter zu beleuchten, lust­­voll an den Tabus und Sprach­­re­gelungen zu kit­zeln und diese der Lä­cherlichkeit preis­zuge­ben. Die zen­tra­len Ideo­lo­geme der Political cor­rect­ness zu zer­stö­ren, ist vor­dring­liche Auf­gabe einer geistigen Par­tisa­nen­tätig­keit. "Der Be­trof­fen­heits-Be­sof­fenheit kann man nur mit Sub­version be­geg­nen. ... Der An­­arch, [2] Par­tisan oder Dandy ist das einzig effek­tive Ge­genbild zum Bü­ro­kra­ten, Apparatschik, Funk­tio­när und Des­po­ten." [3] Er ist der Bote, der das postideologische Zeit­alter ankündigt.

In ihm werden wir uns einer Ideologie nur noch bedienen, uns aber nicht mehr von ihr beherrschen lassen. Wir werden die alte deutsche Un­art able­gen, Dinge um ihrer selbst willen zu tun, und pragmatisch wer­den. Wir wer­den kalt­­lä­chelnd natio­nal-eigennützig denken, aber nicht davon sprechen. Dabei werden wir uns nicht mehr zuvor drei­­­mal be­kreu­zi­gen wie die Kos­mopoliten und nicht der gan­­­zen Welt das na­tio­nale Den­ken aufdrängen wol­len wie die Na­tio­na­li­sten. Diese Ideo­logie mit ihrem heutigen Hauptvertreter Eichberg geht auf Her­der zu­rück. Sie möchte nicht ruhen noch rasten, bis die ganze Welt in nied­liche klei­ne Reservate ethni­scher Na­tiönchen par­zel­liert ist. Eichberg möch­te etwas für uns Richtiges uni­versalisieren und ex­por­tieren. Wir dagegen werden am deut­schen We­sen und sei­ner neuesten Idee: dem Ethno­pluralismus, nicht mehr die Welt gene­sen las­­­sen wollen. Na­tio­nal denken bedeutet dann: tun, was wir in un­se­rem Interesse für rich­tig halten, und: un­ser Interesse selbst de­finie­ren. Wenn es in unse­rem Inter­­esse wäre, daß Rußland zer­bröselt, würden wir den Mord­winen und Gagausen den Eichbergschen Be­frei­ungs­na­tio­na­lis­mus [4] wärm­stens anempfehlen. Für Sorben und Tschechen dagegen wer­den wir diese Lektüre in je­dem Fall für unge­eignet halten. Gei­sti­ger Waf­fen­ex­port kann eine Dumm­­heit sein.

Das postideologische Zeitalter muß nicht erst ausgerufen werden, es ist bereits an­ge­brochen. Beim "heutigen Dezisionismus" geht es "nicht um drama­tische exi­sten­zielle oder weltanschauliche Entscheidungen, ... wie dies beim vor­an­ge­gangenen [militanten oder fideistischen] Dezisionismus existen­zia­listischer Philosophen der Fall war, sondern um solche, die von einem kalku­lierenden Intellekt getroffen wur­den, der die weltanschauliche Grund­ein­stellung technischer Rationalität ... voraus­setzt. Seine Entscheidungen betref­fen also nicht das Ganze, nicht den Ursprung der Dinge und den letzten Sinn des Lebens..." Damit ordnet er sich geistesgeschichtlich in die Postmoderne ein. "Der postmoderne Denkstil beruht ... auf der freien Kom­binatorik" histo­rischer Elemente. [5] Diese freie Kombi­natorik setzt die prinzipielle Gleich­wertigkeit der Entscheidungsoptionen und damit den Dezisionismus voraus. Der postmoderne Denkstil und der heutige Dezisionismus beinhalten für sich ge­nommen noch keinerlei konkrete Ent­scheidung, sondern öffnen erst den Weg zu Entscheidungsfreiheit und Selbst­bestimmung. 

Selbst­­bestimmung ist normative Selbstbestimmung, oder sie ist ei­ne Farce. Jedes menschliche Kollektiv hat selbst die Möglichkeit, frei dar­­über zu entscheiden, ob es sich als Volk definieren und durch ei­nen Staat han­­deln will oder nicht. Die Ent­scheidung für oder gegen ein kon­­kre­tes kollektives Selbst­verständnis muß jede Ge­meinschaft selbst tref­­fen. So standen die Ju­den in den letzten beiden Jahr­hun­der­ten vor den drei Möglichkeiten: sich völlig zu assimilieren und da­mit als Ge­mein­schaft zu erlöschen, sich in der Zerstreuung rein reli­giös zu defi­nieren wie bisher oder zu einem Staatsvolk zu werden. Das po­li­ti­sche, ethi­sche und gei­stige Selbst­bestim­mungsrecht, solche Ent­­schei­dun­gen zu treffen, müssen wir für uns re­kla­mieren und von Fall zu Fall an­hand unserer situationsbedingten Interessen aus­üben. Alle Welt glaubt an den unantastbaren Wert der Autonomie. Darum ist diese ein bestens ge­eignetes Ideologem, unsere Interessen vorzutragen.

Wenn die Lage ein festes Zu­sam­menstehen gegen einen Feind er­for­­dert, wenn wir uns von je­mandem befreien wollen oder das Volk sich in mul­tiethnische Be­standteile auflösen sollte, werden wir mit Ernst Moritz Arndt "welschen Tand ver­tilgen" und mit Friedrich Ludwig Jahn die Ju­gend zur Leibesertüchtigung rufen, aber wir wer­den dabei leise über uns selbst la­chen. Wenn die Lage ruhig ist und wir friedlich Handel und Wandel treiben dür­fen, werden wir den Ne­gern in Afrika ernsthaft erklären, daß es ein Men­schenrecht ist, einen deut­­schen Kühlschrank für unser Exportbier kaufen zu dürfen, und wir werden dabei in­ner­­lich ein wenig lauter lachen. Wenn Gene­ral-Mo­tors die Kölner Ford­­werke schließen will, werden wir er­klären, daß die Pro­duk­tions­mit­­tel dem Volke ge­hö­ren und hiermit in dessen Ver­fü­gungs­gewalt über­gehen, und dabei wer­den wir am lautesten la­chen. Nie wieder wer­den wir uns auf das Pro­kru­stesbett einer verord­ne­ten Ideologie le­gen las­sen. Wir werden jeden Morgen aufstehen und uns dabei fra­gen, für welche Ideologie das Wetter günstig ist. Je­den Tag werden wir eine lieb­ge­wor­dene Denkgewohnheit über Bord wer­­­fen, wenn sie uns hindert, den Anfor­derun­gen einer geänderten Zeit zu genügen. Dabei werden wir uns nicht opportu­nistisch schimp­fen lassen müssen; schließlich brauchen wir den ganzen ideologischen Müll nicht selbst zu glauben. Woran wir tief drinnen wirklich glauben: unsere tiefste Liebe, unser größter Schmerz: das geht keinen etwas an. Wir werden ganz einfach freie Herren unserer Ent­­schlüs­se sein.

Ideologien zu dienen ist etwas für normativistische Her­den­men­schen, nicht für selbst Denkende und frei Entscheidende. Beide Men­schen­typen wird es immer ge­ben, ja es steckt in jedem von uns etwas von dem ei­nen und etwas von dem anderen. "Wer erinnert sich nicht," frag­te Comte , "Theologe in seiner Kindheit, Metaphysiker in seiner Ju­gend und Physiker in seinem Mannesalter gewesen zu sein?" [6] Der Be­­grün­der der Soziologie irrte aber, wenn er die ganze Mensch­­heits­geschichte als Ab­folge einer theologischen, einer meta­phy­sischen und einer positiv-wissenschaftli­chen Epoche darstell­te. [7] Im post­ideo­lo­gi­schen Zeitalter werden nämlich immer nur die­je­ni­gen leben, die an­de­ren die Richtung vorgeben. Die Masse läßt an­ders­wo denken und be­schränkt sich auf dumpfes Glauben. Denk­ge­wohn­hei­ten auf­zu­ge­ben er­­forderte schon immer mehr geistige Be­weg­­lich­keit als die Hän­de brav ge­faltet zu lassen.

Vor allem aber ist die be­wußt freie Ent­­schei­dung keine realistische Mög­lichkeit für Mehr­­hei­ten, weil sie den Pri­mat der Willenskraft voraus­setzt, die bei den mei­sten eher un­ten in der Skala ihrer Fähig­keiten und Bedürfnisse ran­­giert. Wer das Wag­nis der geistigen Frei­heit ohne tröstendes Netz trans­zenden­ter Hoff­­nun­gen ein­geht, den umweht ein eher kal­ter Wind. Das mag nicht jeder, und so mancher Frei­geist kroch im Al­ter an der Schwelle des To­des doch noch unter den segnenden Rock­zip­fel reli­giöser Trost­spen­der und gesellte sich als braves Schäfchen zur Herde seines Bi­schofs. Andere ziehen das weltliche Zepter dem Krumm­stabe vor und füh­len sich erst im Kollektiv richtig frei und schwärmen dann: "Wahre Frei­heit wird dem Men­schen nur in der Aufhebung von Einmaligkeit und Begrenztheit des Ein­zel­wesens." [8]

Machiavelli wurde von Alters her von den Gläubigen aller Reli­gio­nen und Ideo­logen als Erzteufel verschrien, weil er immer wieder be­tont hat, daß man Systeme benutzt und sich nicht benutzen lassen soll. Im Zusammen­hang mit verschiedenen Staatsformen wie Mon­ar­chie oder Republik hat er mit Recht auf das Phänomen des Zeit­geistes hin­­­gewiesen. Je nach Beschaf­fenheit des Volkes und der Ver­hältnisse ver­­spreche die eine oder eine andere Hand­lungsweise Er­folg. "Der aber wird weni­ger Fehler machen und mehr Glück haben, der ... sei­ne Handlungsweise mit den Zeitverhältnissen in Ein­klang bringt." [9] Wer sich durch schlechte Wahl seiner Mittel in Gegen­satz zu sei­ner Zeit stelle, werde meistens unglücklich, und seine Hand­lun­gen neh­­men ein schlechtes Ende. Bisher sind noch alle Ty­ranno­saurier von Re­­ligionen und Ideo­logien mit ihren Gläubigen irgend­wann aus­ge­storben.

Seien wir also flexibel! Jeder blinde Glaube an Heiliges oder Ewi­ges hindert uns daran, Ideologien als zeitbedingte Problem­lö­sungs­stra­tegien zu erkennen und zu be­nutzen. Jede ist in ihrer Art eine ein­zig­artige und unwiederholbare Antwort auf eine konkrete historische Fra­ge. "Leider ist es nur allzu natürlich, daß die Menschen auf den neu­en Anruf mit der alten Ant­wort reagieren, weil diese sich für eine vor­ange­gangene Epoche als richtig und erfolgreich erwiesen hat. Dies ist die Gefahr: Indem die Menschen hi­storisch zu sein glauben und sich an das früher einmal Wahre hal­ten, ver­gessen sie, daß eine ge­schichtl­iche Wahrheit nur einmal wahr ist." [10]

Die Schlacht um unsere gegenwärtige und künftige geistige und phy­­si­sche Exi­stenz müssen wir auf demjenigen Schlachtfeld schlagen, über dem heute der Zeit­geist schwebt. Wir sind nicht in der glück­li­chen La­ge, aus un­serer tiefsten Seele un­sere Götter zu beschwören und ins Ren­­nen zu schic­ken. Sie wären machtlos gegen den Geist einer tech­no­­zen­trischen, egomani­schen und nützlichkeitsbesesse­nen Zeit. Die mo­­derne Massengesellschaft er­zeugte den ihr eigenen Men­schen­­­ty­pus. Die­­ser schuf sich im libertären Liberalismus seine passende Phi­lo­so­phie, im Ka­­pi­­ta­lismus seine adäquate Wirtschafts­form und sucht im Welt­staat sei­­ne politische Form zu finden.

Damit sind die utilita­ri­sti­schen Ge­­setz­lich­­kei­ten formuliert, die in unserer Epo­che den Ton an­ge­ben. Wir kön­nen sie aber geistig mit ihren eigenen Waffen auf ih­rem ei­genen Felde schlagen. Im­mer wenn der Erzfeind eines Zeit­gei­stes mit dessen eigenen Waffen han­tiert, ist das allerdings der letzte Be­­weis dafür, wie sehr dieser Zeitgeist sich be­reits durchgesetzt hat. Der Katholik "de Maistre hat ein glänzendes Zeug­nis dafür ab­ge­legt, in­­dem er un­will­kürlich diese unvermeidliche Not­wendigkeit in sei­ner Phi­­losophie an­erkannt und sich bemüht hat, die Wie­der­her­stel­lung der päpst­­lichen Macht aus einfachen histo­ri­schen und politischen Grün­den her­zu­lei­ten, statt sie im Namen des gött­lichen Rechts einzu­for­dern, wie ein sol­cher Geist zu ei­ner an­deren Zeit es sicherlich ge­tan hätte." [11] Als Roya­list mußte er sich zu Er­ör­te­­­rungen darüber her­ab­las­sen, "ob es im Interesse des französischen Vol­­­kes liegt, ei­nem voll­zie­henden Di­rek­torium oder den beiden Kam­mern der Verfassung von 1795 unter­tan zu sein, anstatt einem König, der nach alten For­men regiert." [12] So müssen auch wir uns äußerlich dem Geist der Ei­gen­nützig­keit un­terwerfen und zol­len der herr­schen­den Zeit­mei­nung unseren Tribut, indem wir ihr die Wahl der Waf­fen lassen. Doch sie wird gehen, und unsere Zeit wird kommen.

Nächstes Kapitel:
Die konkrete Werteordnung


 



[1] Kondylis, Nur Intellektuelle behaupten..., S.687.

[2] "Ernst Jünger hat in seinem Buch [Eumeswil, 1977] und in später veröffent­lich­ten Notaten, Briefen und Interviews keinen Zweifel daran gelassen, daß er den An­archen nach dem Vorbild von Stirners "Eigner" entworfen hat - und sogar, daß er sich selbst weitgehend mit dieser Gestalt identifiziert." (Laska, Ein dauerhafter Dissident, S.92).

[3] Sohn, Dandies, Anarchen, Partisanen, Criticón 1993,128.

[4] Grundlegend: Henning Eichberg, Nationale Identität, Entfremdung und natio­na­le Frage in der Industriegesellschaft, München 1978, jüngst: ders.: Das Volk ist der Weg, Über Herder, in: wir selbst, Zeitschrift für nationale Identität, 1/1995, S.37-44.

[5] Kondylis, Der Niedergang...., S.273, 265.

[6] Comte, Die Soziologie, 1. Kapitel, S.3.

[7] Comtes Dreistadiengesetz; in: ders., Die Soziologie, 1. Kap., S.2.

[8] E.J.Jung, Herrschaft, S.29.

[9] Machiavelli, Discorsi, III.Buch, 9. Kap., S.314, desgl.8.Kap.S.312.

[10] Carl Schmitt, Die geschichtliche Struktur des Gegensatzes von Ost und West (1955), in: ders., Staat, Großraum, Nomos, S.523 (544)

[11] Comte, Die Soziologie, S.40.

[12] De Maistre, Betrachtungen über Frankreich, S.43.