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Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S. 205 ff.
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Die Gemeinschaftsbindung

Die soziale Ordnung

Auch eine menschliche Gemeinschaft ist als Gan­zes mehr als die Summe vieler einzelner. Sie zu be­wahren, erfordert mehr an ethischen Wer­ten als individualisti­sches Einzelmenschbewußtsein und he­do­ni­sti­sche Be­liebigkeit. Bewahrung der so­zialen Gemeinschaft er­for­dert Wert­setzungen, welche die In­te­gri­tät der sozialen Ordnung nach in­nen und außen abstützen. Wir müs­sen da­nach fragen dürfen, ob die li­be­rale Maxime: die Do­mi­nanz des unmit­telbar nur dem In­di­vi­duum Nütz­lichen ohne primäre Rück­­sicht auf das Ganze, diese Ge­mein­schaft schließlich zerstört und da­mit auch dem egoisti­schen einzelnen die Grundlage seiner Exi­stenz ent­zieht. Oh­ne sozialbezügli­che Wert­set­zung und ohne Erziehung zu sozialen Tugenden haben wir keine Chan­ce, unser Gemeinwesen, unsere Vorstellungen mensch­li­chen Zu­sam­menlebens und letztlich uns selbst als Volk auf Dauer zu er­halten. Weil sich keine Ordnung von allein einstellt, bedarf auch ei­ne soziale Ord­nung der Stiftung: Die Ordnung muß errichtet, sie er­haltende staat­liche Institutionen müssen etabliert und die sie stützen­den Tu­gen­den müssen durchgesetzt wer­den. Weil ein ausbaufähiger Be­stand an staat­licher Ordnung trotz aller ga­loppierenden Auflösung aller Dinge er­halten ist, muß unsere Hauptsorge den Tugenden gelten.

Die Aufklärung dar­über, daß die gemeinschaftsbildenden Tu­gen­den letztlich nicht reli­giös oder sonst metaphysisch begründbar sind, hat zum Verlust alles des­sen geführt, was ein Gemeinwesen im Inner­sten zu­sam­men­hält. Sie "lö­ste die Treue­pflicht zu außer­rationalen Wer­­ten auf, hob die Bin­­dun­gen durch Kritik ins Bewußt­sein, wo sie ver­ar­bei­tet und zer­dampft wur­den, und stellte Formeln bereit, die An­griffs­po­ten­tial, aber kei­ne konstrukti­ve Kraft hatten." [1] Wenn wir die Wirkungen des Ge­mein­schaftlichen wie­der nutzbar machen wollen und uns darum für die An­wendung der gemein­schaftsbildenden Werte ent­schieden ha­ben, muß die Auflösung dieser Werte ein Ende haben. Sie sind der Mörtel, der die Bausteine unseres Gebäu­des zusam­men­hal­ten soll.

Um sie sozial wirken zu lassen, müssen wir den Vor­hang der Aufklärung schließen und die so­zialen Tugenden verkünden und an­wenden, als ob sie onto­logi­sch real wären. "In dem Moment, in dem ein Reich aufhört, heilig zu sein, ist es schon kein Reich mehr." [2] Es ist praktisch un­mög­lich, ein Volk von Einzel­gängern zu­sam­menzuhalten, die an über­haupt nichts glau­ben. Ohne Zusammenhalt zu einem Ganzen ist auch der einzelne schwach; zu schwach in einer Fünf-Milliarden-Men­schen-Welt. Nur mit vereinten Kräften sind wir stark. "Der Ver­ein ist nur dein Werk­zeug oder das Schwert, wodurch Du deine na­tür­liche Kraft ver­schärfst und vergrö­ßerst; der Verein ist für Dich und durch Dich da." [3] Dumme Autonome ge­ben sich links. Sie werden Anar­chisten und verzichten auf die Annehmlich­keiten des Ge­mein­schafts­­­lebens. Schlaue Autonome denken weiter: Sie sind keinen Deut we­niger autonom, nur weil sie die Autonomie nicht auf sich al­lein be­ziehen, son­dern auf ihr ganzes Volk. Jeder dient sich selbst am be­sten und nach­hal­tig­sten, in­dem er sich mit anderen zusam­men­schließt. Nur wenn er als Mit­glied seiner Fa­milie und seines Volkes für andere ein­steht, darf er hof­fen, selbst in der Stunde der Not nicht allein da­zustehen. Praktisch funk­tioniert die­ses bewährte Konzept nur mit staatlicher Organisation und einem ver­bind­­lichen Katalog von Tugen­den:

Das Wissen um die Willkür solcher Wertsetzung bleibt immer in­tel­lek­tuellen Fein­schmeckern vorbe­halten. Darum ist das Verkünden der Werte, für die wir uns entschieden haben, eine realistische Op­ti­on. Die Aufklärung mit ihrer Zerstörung fast alles dessen, was Men­schen einst heilig war, hat den Boden bereitet für eine neue Glau­bens­sehn­sucht. Diese zeigt sich zur Zeit in Form von Lichterketten für hu­mani­taristische Hirngespinste. Nach Zerstörung aller über den einzel­nen hinausgrei­fenden Sinnstiftung blieb den Deut­schen nichts als eine ver­schwommene Mensch­heitsutopie. Der Bo­den für die Auf­nahme einer realen, auf uns selbst unmittelbar be­züg­­lichen Sinn­stiftung ist bereitet. "Die weite Verbreitung von Zwei­feln und Re­spek­tlosig­keit führt oft zu unerwarteten Ergebnissen." [4] Hof­fer hat auf diese hin­ge­wiesen: Angesichts des menschlichen Glau­bens­hungers schafft der Intellek­tu­elle durch die Zerstörung des einen Glaubens nur Sehnsucht nach ei­nem neuen. Wenn die Menschen un­bedingt etwas glauben wollen, soll­ten wir wenigstens denjenigen zu einem uns allen nützli­chen Glau­ben ver­hel­fen, die wir nicht vom Wert der eige­nen, freien Ent­schei­dung über­zeugen können.

Die sozialen Tugenden lassen sich nur real etablieren und werden nur dann von einer nennenswerten Anzahl von Menschen angewendet wer­den, wenn die Mehrheit an sie glaubt. Diesen Glauben zu wecken und die Liebe sowohl zur Freiheit als auch zur Gemeinschaft in die Herzen unserer Kinder und derjenigen Erwachsenen zu pflan­zen, die wie Kinder nicht selbst ent­scheiden können oder wollen, ist auch eine Frage der Verantwortung. Diese trifft jeden, der sich für Frei­heit und für den Be­stand der Gemeinschaften entschieden hat, in die er hinein­geboren wurde und denen er sein Dasein und Sosein ver­dankt. Wie wenige Menschen - leider - die geistige Freiheit auf­brin­gen kön­nen und wollen, und wie viele - leider - wie tote Fische im­mer nur mit dem Strom schwimmen; das zu erkennen bedarf praktischer Le­­bens­er­­fahrung, die - leider - mancher Nur-Akademiker nicht hat. Es liegt kei­ner­lei Über­heblichkeit darin, aus dem Inbegriff jahrelanger be­­ruf­li­cher Erfah­rung gerade auch mit Menschen ohne formale Schul­bil­­dung festzustellen, daß eine Mehrheit zu kriti­scher Reflexion von Wert­­fra­gen nicht fähig ist. Für diese Mitbürger die Last wert­setzen­der Ent­scheidung mitzutragen und im Sinne aller zu verantworten, ist eine selbst­ver­ständ­liche Pflicht für jeden, der das Glück hatte, eines Bil­dungsprozesses teilhaftig zu werden, den sich nur ein tätiges Volk vieler solcher "Ungebildeter" er­lauben kann. Vater­landsliebe kann nur Liebe zu den konkret vorfindbaren Menschen bedeuten, wie sie eben sind, nicht die zu einer idealistischen Fiktion.

Die vorgefundene Gemeinschaft, in die jeder von uns hinein­gebo­ren wurde, ist die Grundlage unserer aller Existenz. Man kann nicht wie Ha­bermas die Wirklich­keit neu erschaffen und so tun wollen, als stünden wir uns in einem gedachten Mo­ment als autar­ke Einzelwesen gegenüber, die nichts miteinander zu tun haben und die zunächst ein­mal einen Gesell­schaftsvertrag mit­einander schließen müs­sen. Diese Idee braucht nur, wer die Wirk­lich­keit völlig umkrem­peln möchte und wem die vor­ge­fundene Wirk­lich­keit da­bei im Wege sieht. Er schließt vor ihr die Augen, um wie auf einem Reiß­brett den Neu­ent­wurf einer ganz anderen Wirk­lichkeit zu wagen, und zwar einer, in der er selbst als berufener Inter­pret dessen eine be­son­dere Rolle spielt, was er selbst zuvor für ver­nünftig erklärt hat. Es ist aber völlig abwe­gig, im Menschen nur das reine Subjekt der Logik zu sehen, das in so­zial­ethisch ganz indif­fe­ren­ten Beziehungen zu eben­so beschaf­fe­nen an­de­ren Subjekten steht. [5] Genau das aber ist der Kern von Haber­mas Theorie der kommunikativen Vernunft. Als Wert­set­zung steht sie in un­auf­lös­li­chem Wi­derspruch zu einem Bild vom Menschen als ver­ant­wort­li­chem Mitglied einer vorgefundenen Ge­mein­schaft. Die Wert­­ent­schei­dung für die gemeinschafts­gebundene Persönlichkeit ist übri­­gens die des Bon­ner Grundgesetzes [6] , und jeder sollte sie für sich nach­voll­zie­hen, der sein eigenes Wohl und Wehe vom Bestand seines Volkes ab­hängen sieht. Das Bundes­verfas­sungs­gericht hat da­zu aus­geführt: "Das Menschenbild des Grund­gesetzes ist nicht das ei­nes isolierten sou­veränen Indivi­duums; das Grund­gesetz hat viel­mehr die Span­nung Indi­viduum-Ge­mein­schaft im Sin­ne der Gemein­schafts­be­zogenheit und Gemein­schafts­gebundenheit der Person ent­schie­den, ohne dabei deren Eigen­wert anzutasten." [7]

Dem Glauben an die sozialen Tugenden entgegen steht die Aufklä­rung über ihre Beliebigkeit. Eine Aufklärung über die Aufklärung muß das de­struk­tive Angriffs­potential der Aufklärung auf sie selbst rich­ten und sie zer­stören. Das Dilemma der Aufklärung hat Jan Roß mit den Worten zu­sam­­men­gefaßt: "Wenn freilich am Ende das kalte und abstrakte Den­ken alle hergebrachten Normen als bloße Vor­ur­tei­le be­seitigt hat, ist jede Untat er­laubt und die Rationalität zur Bar­ba­rei geworden. ... Be­frei­ung schlägt in Knechtschaft um, vollkommene Be­freiung in to­tale Knechtschaft. Diese töd­liche Falle ist die Dialektik der Auf­klä­rung." [8] Ihr entkommen wir nur, wenn wir die sozialen Tu­genden wie reale Gegebenheiten anwenden und un­sere konkreten, historisch gewachsenen Ordnungsideen respektieren. Wer sich gegen sie ent­scheidet, darf unseres philosophischen Wohlwollens sicher sein, muß sich aber ge­fallen lassen, nach Maßgabe der Gesetze eingesperrt zu werden. Wer als Robin­son, als Verbrecher oder Autonomer seine Tage fri­sten will, hat die Ent­schei­dungs­frei­heit, gegen alle diese Re­geln zu leben, ohne Moralvor­wür­fe hören zu müs­sen. Die so­zialen Aus­­fallerscheinungen und psychischen Störungen der Mas­sen­­ge­sell­schaft haben tatsächlich bei vielen gesamt­schulge­schä­dig­­ten kleinen Rambos die unabdingbare Grund­lage für alles gemein­schafts­bezo­gene Ethos zerstört: die Lie­besfähigkeit. Krankhafter Selbst­haß kann die un­­befangene Eigen­liebe jedes geistig Ge­sunden zerstören, und solche Psy­­chopathen sind auch unfähig, ihre nächsten An­gehörigen oder ihr Volk zu lieben.

Ein Mensch allein, schrieb Konrad Lorenz , ist - für sich ge­nommen - gar kein Mensch; "Nur als Mitglied einer geistigen Grup­pe kann er voll Mensch sein. Gei­sti­ges Leben ist grundsätzlich über­individuelles Le­­ben; die indivi­duelle kon­krete Verwirklichung geistiger Gemein­sam­­­keit nennen wir Kul­tur." Der Verhaltensfor­scher hatte schon vor Jahren weitsichtig formuliert: "Wir müssen lernen, einsichts­volle Hu­manität dem Individuum ge­gen­über mit der Berück­sichtigung dessen zu verbinden, was der mensch­li­chen Ge­meinschaft not tut. Der Ein­zelmensch, der mit dem Ausfall be­­stimmter so­zia­ler Verhaltensweisen und dem gleichzeitigen Ausfall der Fähigkeit zu den sie begleitenden Ge­fühlen geschlagen ist, ist tat­säch­lich ein armer Kranker, der unser volles Mitgefühl verdient. Der Aus­fall selbst aber ist das Böse schlechthin. Er ist nicht nur die Ne­ga­tion und Rückgängigmachung des Schöp­fungsvorganges, durch den ein Tier zum Menschen wurde, sondern etwas viel Schlimmeres, ja Un­heimliches. In irgendeiner ge­heimnisvollen Weise führt die Stö­rung mo­ralischen Verhaltens näm­lich oft nicht zu einem einfachen Fehlen alles des­sen, was wir als gut und anständig empfinden, son­dern zu ei­ner aktiven Feindschaft dage­gen." [9] - Hiergegen bieten sich diejenigen ethische Werte und Grund­hal­­tun­gen an, die seit undenklichen Zeiten den Bestand mensch­licher Ge­­mein­schaften stützten.

Ganze Bü­che­rei­en wurden geschrieben mit philosophischen Spe­ku­latio­nen darüber, ob der Mensch an sich gut oder böse sei; ob er, läßt man ihm freien Lauf, des Menschen Wolf oder ein friedliches Lämm­chen sei. Komplette Philosophien bauen auf der einen oder der ge­gen­teiligen Annahme auf, häu­fig inspiriert durch zeitbedingte Le­bens­er­fahrungen des Phi­lo­so­phen. Wäh­rend etwa Hobbes meinte, von Na­tur aus und ohne staat­li­chen Zwang sei der Mensch überhaupt nicht sozial, behauptete Gro­tius das Gegenteil. So erho­ben beide den In­halt eines all­ge­mein­men­sch­­lichen Triebes zur Grundnorm: Hobbes den Selbst­er­hal­tungs­trieb und Grotius den appetitus societatis. [10] Der eine sah damit nur den in­di­vi­dua­li­sti­schen Eigenwil­len, der andere nur den Gemein­schafts­sinn als Natur des Menschen an. Alle diese phi­lo­sophi­schen Spe­ku­la­tio­nen über die Na­­tur des Menschen ha­ben nur noch hi­sto­­rischen Reiz, seit sich die ver­­gleichende Ver­hal­tens­­for­schung vom Men­schen als exakte Na­tur­wis­­senschaft allge­meine An­er­­kennung er­wor­ben hat. Sie hat die alte Ver­mutung bewiesen, daß der Mensch von Na­tur aus bei­des sein kann - In­di­vidua­list und sozia­les Wesen - und je nach seinen Le­bens­um­­stän­den und sei­nem Eigen­willen mehr oder we­ni­ger das ei­ne oder das andere ist.

Weder eine imaginierte Transzendenz noch ge­ne­ti­sche Prä­disposi­tion be­seitigen die Notwendigkeit der freien Ent­scheidung für oder gegen die sozia­len Wertvorga­ben. Herkömmliche Moral und mo­­derne Humangenetik zeigen aber deutlich auf, daß menschliche Ge­mein­schaf­ten offenbar der dauerhaften Bindungswir­kung sozia­ler Impe­ra­ti­ve bedürfen. Diese müssen wir durch Ent­scheidung der Dis­kussion ent­­zie­hen und in Form einer kon­kre­ten staatli­chen und ge­sell­­schaft­li­chen Ord­nung be­wahren und ver­tei­digen, wenn uns am Be­stand der­je­ni­gen menschlichen Ge­mein­schaft etwas liegt, der wir an­ge­hören. Das gilt gerade in einer Zeit plu­ralistischer Be­lie­bigkeit, in der zu­neh­mend mehr Menschen ihre Ent­schei­dungs­freiheit so be­nut­zen, daß sie im End­effekt nur noch für ihren indivi­duellen Lustgewinn und die Un­­lust­ver­meidung leben, in der die Re­spektierung von ge­mein­schaft­li­chen Wer­ten also eine Mühe und einen Verzicht bedeuten kann.

Wenn wir aus der modernen Anthropologie Erkenntnisse für poli­tische Zwecke unmittelbar nutzbar machen wollen, dann sind es die der verglei­chenden Verhal­tensforschung. Sie decken sich völlig mit dem, was jedem Laien unmittelbar evident ist und seinem täglichen Gefühlsleben entspricht: Nicht nur die Aggression, auch die Fähig­keit zu freundlichen Gefühlen ist uns unmittelbar angeboren. Wir kommen mit einem Instinktrepertoire auf die Welt, das, je nach Si­tuation, be­stimmte Verhal­tensprogramme ablaufen läßt - wenn - ja wenn! - wir sie ablaufen lassen. Denn daß wir trotz Hungers nicht es­sen müs­sen, trotz Wut nicht losschlagen müssen und uns im allge­mei­nen ge­gen­über anziehenden Artgenossinnen nicht benehmen wie un­sere pein­li­chen Verwandten im Zoo; daß unser freier Wille also über allen die­sen Verhal­tensprogram­men steht, ist natürlich auch eine an­thropolo­gische Bin­senwahr­heit.

Leider wurde und wird sie von manchen Nur-Gei­­steswissenschaft­lern nicht verstanden. Sie meinen, die Biologie habe seit Darwin , der Af­fen für unsere Vorfah­ren hielt, oder seit dem Arzt La Mettrie nichts da­zugelernt, der uns Menschen für nichts als organische Ma­schi­nen gehalten und ihnen die Willens­frei­heit ab­gespro­chen hatte. So möch­te Zippelius die Naturwissen­schaften vom Menschen ab­tun: Die Sozio­biologie könne keine Hilfe sein, weil mensch­liches Ver­­hal­ten nicht allein auf angeborenen Dispositionen be­ruht, sondern eben auf Welt­anschauungen, die soziale Integrations­funk­tio­nen be­sit­zen und Orien­tierungsgewißheiten vermitteln. [11] - Aber gerade das ist doch die zentrale Einsicht aller Forschung über das menschliche Ver­hal­­ten seit Konrad Lorenz! Ersichtlich behauptet kein Na­tur­wis­sen­schaft­ler heu­­te, Menschen seien willenlos ihren Instinkten un­ter­worfen - im Ge­­gen­teil! Je mehr wir dazugelernt haben über angeborene Instinkte und Rei­ze, über Hormon­aus­schüttun­gen unseres Gehirns und ge­ne­ti­sche Ver­­anlagung zum "Wertfühlen", desto sicherer wurden wir: Unser Ver­stand kann sich darüber erheben, wenn er nur will. Der Mensch ist, mit den Worten Geh­lens, von Na­tur aus ein Kul­tur­wesen. [12] Es ist ty­pisch für ihn, und nur für ihn, die Welt ei­ner um­fas­sen­den Deutung zu unterwerfen, um sich in ihr zu orien­­tie­ren und sie nach seinem freien Willen zu formen.

Inwieweit angeborene Verhaltensdispositionen unser Verhalten be­ein­flus­sen, weil wir sie uns nicht bewußt machen oder weil wir sie be­wußt bejahen und "ablaufen" lassen, ist aber eine Frage, der sich die po­litische Theorie nicht ver­schließen darf. Schließlich muß sie auch ein­kalkulieren, daß wir Menschen gerade in unserem Verhalten ge­gen­­über Mitmenschen stammes­geschichtlich vorgeprägt sind. Auf ge­ne­tischen Programmen beruhen nicht nur der Apparat unserer Sin­nes­wahr­nehmungen und die Fähigkeit zu logi­schem Denken; auf ih­nen be­ruhen nach Lorenz "auch die komplizierten Ge­fühle, die unser zwi­schen­­menschli­ches Verhalten bestimmen. Besonders un­ser soziales Ver­hal­ten ist von uraltem Erbe arteigener Ak­tions- und Re­ak­ti­ons­mu­ster beherrscht." Den in unzähligen Generatio­nen des Le­bens im so­zia­­len Kleinst­verband er­worbenen Verhaltens­strategien entsprechen in auf­­fäl­liger Weise kul­turell überlieferte Werthaltungen: So ist die zum "in­­stinkt­mä­ßigen Ethogramm" [13] gehörende Freundestreue, also der An­­trieb, sich und nächste Angehörige bei einem Angriff gemeinsam zu ver­tei­digen, zwei­fellos stammesge­schichtlich erworben, bildet aber auch in allen bekannten Kulturen einen Wert. Niemand muß sich ent­scheiden, diesen für sein per­sönliches Leben als verbindlich zu akzep­tie­ren, aber seine Existenz bei den meisten Menschen und seine zweck­g­erichtete Funktion muß bedacht werden. Wer nämlich die hin­ter dem Phäno­men Freundestreue stehende teleonome Wirkung erreichen möchte, wird sie als Wert benötigen und sie unter den Tugenden seiner Weltan­schauung nicht missen wollen.

Nächstes Kapitel:
Die Vaterlandsliebe

 


 



[1] Gehlen, Moral und Hypermoral, S.102, dort im Präsens.

[2] Julius Evola, Revolte gegen die moderne Welt, a.a.O., S.353.

[3] Stirner, Der Einzige, 2.Abtl., II. 2., S.351.

[4] Hoffer, Der Fanatiker, S.119.

[5] Dürig in Maunz-Dürig, Komm.zum GG, Art.1 Rdn.48.

[6] Dürig in Maunz-Dürig, Komm.zum GG, Art.1 Rdn.46, 49.

[7] Urteil vom 20.7.1954, BVerfG E 4, 7 (15 f.).

[8] Jan Roß, Dialektik der Aufklärung, FAZ 24.5.94.

[9] Lorenz, Der Abbau des Menschlichen, S.70, 122 f..

[10] Kondylis, Die Aufklärung, S.151 ff., 166 f. nach Welzel, Naturrecht, S.126.

[11] Zippelius, Recht und Gerechtigkeit, S.96-101, 147-170.

[12] Gehlen, Moral und Hypermoral, S.9.

[13] Lorenz, Der Abbau des Menschlichen, S.100, 113.