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Der Fanatiker

Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S.66 ff.
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Zuweilen identifiziert sich jemand mit seinen normativen Idealen so stark, daß er seine eigene Existenz mit ihrer Durchsetzung stehen und fallen sieht. Dann wird er zum Fanatiker und lebt nur noch für sein fanum, sein Heiliges. Mit fana­ticus be­zeich­neten die Römer ei­nen von schwärmerischer Raserei Ergriffenen. Vor allem per­sön­lich­­keits­­schwa­che Menschen neigen dazu, ihre eigene innere Leere da­­durch zu kom­pensieren, daß sie eine be­stimmte fixe Idee zu ihrem al­­lei­nigen Lebensinhalt machen und ihr Weltbild nur noch auf die Durch­­setzung die­ser Idee stützen. Sie versetzen sie wie ei­nen Fixstern in ein dazu erfundenes Jenseits und erhöhen sub­jektiv ihre eige­ne Be­deu­­­tung da­durch, daß sie als Strei­ter für das mit der Idee iden­tifizierte Gu­te ge­gen ir­gendein Böses auftreten. Die "glühende Überzeugung" von ei­ner "heiligen Verpflich­tung" ist häufig der "ret­ten­de Strohhalm für das ver­sin­kende Ich." [1] Die überwertige fixe Idee wird schließ­­lich zum Mittelpunkt der ei­ge­nen Exi­stenz, für die und aus der allein der Fa­­natiker noch lebt.

Eine sol­che Persönlichkeitsstruktur bringt den Ty­pus des fa­na­ti­schen Par­tei­gän­gers her­vor. Seine Orga­ni­sation ist ihm "Le­bens­in­halt und Mittel­punkt rastlo­ser Tätigkeit für die revolu­tio­nä­ren Ziele. Vie­le Mit­glie­der ver­schreiben sich der ein­mal als rich­tig er­kannten Sa­che bis zur Selbst­preisga­be. Der Glau­be an die Er­kenn­bar­keit des »Wah­ren« und »Gu­ten« bringt eine dua­li­sti­sche Welt­sicht her­vor, in der nur Gut und Bö­se, Wahrheit und Lüge, Freund und Feind ihren Platz haben." [2]

Es ist also typisches Merkmal des normativistischen Fanatikers, daß er un­fä­hig ist, seine Ideen gedanklich in Frage zu stellen. Er pro­ji­ziert sein ei­genes Selbst voll­ständig auf seinen Glaubensinhalt und ist sich des Mecha­nismus nicht bewußt, daß dessen Normen nichts als transzendierte Abbilder seines eigenen Ichs und seiner Wünsche, Ängste und Hoffnungen sind. Die "Quelle seiner Kraft liegt darin," sich als Vertreter "eines mächtigen, herrli­chen un­zerstörbaren Gan­zen" zu fühlen. Sein Glaube dient der "Identifikation, in dem das In­dividuum als Individuum zu bestehen aufhört und Teil eines Ewigen wird." [3] So bildet dem religiösen Menschen christli­cher Prägung sein Gott den Zentralwert, auf den er sein Sein ausrichtet. Ge­genüber der Hoffnung auf ein Aufgehen seiner Seele, also seines Ichs, im Paradies ordnete er alle ande­ren möglichen Werte unter. Das Paradies ist der jenseitige Raum, in dem sein Gott allumfassend an­wesend ist. Zu den Wer­ten untergeordneter Bedeutung zählt auch sein diesseitiges leibli­ches Leben. Das jenseitige Seelenheil hat in jedem Fall Vorrang. Im Lichte des idea­len, paradiesischen Jen­seits erscheint das Diesseits als un­vollkommenes Abbild, als Jam­mertal und letztlich zu über­win­den­des Durch­gangsstadium.

Das Ewige und Unzerstörbare, mit dem der Fanatiker eins werden möchte, ist häu­fig ein Kollektiv konkreter Menschen wie ein Volk oder ein gedachtes Kol­lektiv wie die Arbeiterklasse. Wer be­schei­de­ner ist, dem reicht im Zwei­felsfall auch ein Fußball­verein. In jedem Fall sucht ein solcher Fa­natiker in einem Ge­meinschaftser­lebnis die kol­­lektive Nestwärme, deren er bedarf, weil sein Selbst­bewußtsein nicht erträgt, die Last des Lebens und der persönlichen Verant­wor­tung allein zu tragen. Der Gegenty­pus zum Kollek­tivisten ist der In­di­vi­dualist. Während es diesem, mit Nietzsche ge­sprochen, in der Nähe zu vieler Menschen stinkt, bedarf jener gerade­zu des kol­lek­­ti­ven Ku­schel­gefühls. Während sich ein Willensstarker wie Nietzsche ein­ma­lig und in seinen geisti­gen Möglichkeiten unbegrenzt fühlt, schwärm­­­te Jung von der "Aufhebung von Einmaligkeit und Be­grenz­t­heit des Ein­zel­wesens." [4]   Motiv des kollek­tivistischen Fa­na­ti­kers ist ein har­mo­nie­­bedürftiges Gemein­schafts­fühlen, das die Ge­gen­sätze zwi­schen­mensch­lichen Ringens in einer kollektiven Über­exi­stenz auf­hebt und das schwa­che Indi­viduum von der Ver­ant­wortung ent­lastet. Je nach Ge­schmack erfüllt aber nicht nur ein Mas­sen­auf­marsch mit Fah­nen­schwen­ken diesen Wunsch. Der einzelne kann sich auch dann mit der Ge­mein­schaft eins fühlen, wenn er sie in seiner Vorstel­lung in ei­nen rie­sigen Diskutierclub freundlicher Mit­bürger ver­wandelt, aus des­sen all­seitiger Ver­ständigung eine kollektive Mei­nung hervorgeht, als de­ren Urheber sich je­der Teilnehmer fühlen darf.

Fanatiker können ganz verschiedene Werte verabsolutieren. In manchen Zei­ten hatten Menschen bestimmten Standes ihr Dasein ganz auf ihre per­sön­liche Ehre aus­gerichtet: Ihr ord­neten bekannter­ma­ßen Offiziere den Wert ih­res Lebens unter, wenn sie nach hoff­nungs­losen Spielschulden oder aus ir­gend einem an­deren Anlaß Selbst­mord begingen. Ein Anlaß für die Beendi­gung des eigenen Lebens besteht für jeman­den, der eine solche Werthal­tung einnimmt, immer dann, wenn die persönli­che Ehre nur durch die Selbst­tö­tung wieder hergestellt werden kann. "Ehre ist mehr als Le­ben," for­mu­lierte diese Werthaltung knapp E.J.Jung. [5] Ist es nicht der Selbst­­mord, so doch die In­kaufnahme des eigenen Todes in einem wag­­­hal­sigen Duell oder einer ähnli­chen lebensgefährlichen Ver­an­stal­tung, wenn es unehrenhaft wäre, das Leben nicht zu wa­gen. Ebenso groß­­­zügig mit dem Leben anderer geht der gehörnte Ehemann um, der zur Wieder­herstellung seiner Ehre wahlweise den Neben­buhler oder die Ehefrau oder beide erschießt.

Das Leben als Wert steht auch für den überzeugten Pazifisten im Hinter­grund. Wer dem Frie­den als al­lei­nigem Wert huldigt und diese Entscheidung auch tat­säch­lich bis zur letzten Konsequenz praktiziert, ver­teidigt sich und die Sei­­nen nicht ge­gen gewalt­tätige Angriffe auf ihr Leben. Die Gret­chen­frage nach dem zentralen Leitwert eines Men­­schen stellt sich spä­­testens im­mer im tragischen Konfliktsfall, wenn die Befolgung der aus einem Wer­te abgeleite­ten Tugend die Befol­gung der aus einem an­deren Wert abgeleiteten Tugend unmög­lich macht.

Der unbedingte, aus einem alleinigen Prinzip entwickelte Wahr­heits­­­an­spruch ist ein typisches Merkmal fanatischen Denkens. Er be­zieht sich nicht auf das im tägli­chen Erleben faktisch Nachprüfbare, sondern auf dessen In­ter­pretation im Lichte der selbstgesetzten Werte und Normen. Unter der Geltung einer einheitli­chen Ideologie, also ei­nes kohärenten, von einem Zen­tral­wert ausgehenden Ge­dankenge­bäudes, ist Wahrheit jede Inter­pre­tation der Umwelt aus den Katego­rien der eigenen Weltsicht. "Für 'die' Wahrheit", spottet Kon­dylis, "kann man aller­dings sterben - aber nur für die eigene, d.h. für jene, die sich mit der eigenen Identität deckt, so daß Verteidi­gung 'der' Wahrheit und Verteidigung der ei­ge­nen Identität letztlich zusammen­fal­len." [6] Weil der Angriff auf seine Wahr­heit den Fanatiker existen­tiell trifft, kennt er in ihrer Vertei­di­gung kein Pardon: "Wer sich selbst im Besitze un­um­stöß­li­cher Wahr­hei­ten wähnt, kann dem Andersden­kenden nicht mit To­le­ranz begeg­nen." [7] "»Es ist unmöglich,«" zitiert Johann Braun aus dem 'Gesell­schafts­vertrag' von Rousseau , "»mit Leuten, die man für verdammt hält, in Frieden zu leben.« Wo ein Teil der Bürger in einem Teil der anderen ... nicht Rechtsgenossen, son­dern Feinde er­blickt, die den Lebensentwurf, den man für sich selbst hegt, gefährden," kann "existentielle Feind­schaf­t auch auf dem Boden des Rechts­­staates jederzeit aufbrechen." [8]

Daß ein anderer sich für andere Grundwerte entscheiden und die Welt ganz an­ders sehen könnte, ist dem fanatischen Ideologen un­be­greiflich. Er erklärt das - nicht ohne Gruseln - zum "falschen Be­wußt­sein" [9] . Sein Un­werturteil über Andersdenkende fällt noch mo­de­rat aus, wenn er sein Nor­menge­bäude bloß weltlich als Ethik ver­tritt, da­ge­gen un­nach­sich­tig, wenn er es religiös überhöht und sich einbil­det, seine Ideen seien göttli­chen Ur­sprungs, und die­ser Gott wa­che eifersüchtig über ihre Einhaltung. Im ersten Fall er­scheint der Ver­­stoß ge­gen die werthaltige Norm als bloße Untu­gend, im letzteren Fall als Sünde. Der Glau­bende kann dann zum unbarm­herzigen Voll­strecker der Ge­bote seines Gottes werden, und der Moralist zum Scharf­richter im Namen sei­ner Moral.

fortsetzendes Unterkapitel: Der Universalist



[1] Eric Hoffer, Der Fanatiker, S.19.

[2] Backes/ Jesse, Extremismus, S.190.

[3] Hoffer, Der Fanatiker, S.55.

[4] Edgar Julius Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen, S.29.

[5] E.J.Jung, Herrschaft, S.220.

[6] Pamajotis Kondylis, Macht und Entscheidung, S.87.

[7] Backes/ Jesse, Extremismus, S.173.

[8] Joh. Braun, Recht und Moral im pluralistischen Staat, JuS 1994, 727, (730).

[9] Vgl. Artikel Ideologie, in: Georg Klaus/ Manfred Buhr, Marxistisch-leninisti­sches Wörterbuch der Philosophie, Bd.2, 1972 (1964), S.546-548.