Klaus Kunze
- Publizierte Zeitungsartikel (Auswahl) -
 

Mehr Demokratie wagen!

(Publikation des Aufsatzes: Junge Freiheit 40 / 1995 )

 

Der Vorwurf der Verfassungsfeind­lich­keit schlägt auf die Bonner Politiker zu­rück. Manch­mal treffen voneinander unab­hän­gige Schläge gleich­zeitig diesel­be Ker­be. Sie trafen jetzt das Selbst­ver­ständnis des Parteienstaats: Diäten­krach, Volksent­scheid in Bayern und Straßbur­ger Radi­ka­len-Ur­teil. In Frage steht das Verhältnis der Volksvertreter zur Verfas­sung. Ein verfas­sungs­widriger Ver­stoß gegen die demokra­tische Kultur ist die vom Bundes­tag ge­plante Diätenregelung nach Mei­nung von vierzig Staatsrechts­professo­ren. Ver­fas­sungsfeinde sind aber angeblich im­mer die ande­ren: Man er­kennt sie in Bund und Län­dern an man­gelnder Betrof­fenheit und la­xer Mo­ral. Wo Glaubensbe­kenntnis­se ge­fragt sind statt Rechtstreue zum Verfas­sungs­text, wird mit Wor­ten des lang­jähri­gen Rich­ters am Euro­päi­schen Gerichtshof Prof. Ulrich Everling (FAZ 29.9.95) "aus dem Ver­fas­sungs­­pa­triotis­mus "eine gera­de­zu religiös ver­klärte 'Ver­fas­sungs­mystik."

Wer die Demokratie gegen Radikale ver­teidigt oder sich um Diäten und Al­ters­rente sorgt, dem kann das Kleinge­druck­te des Grundgesetzes leicht aus dem Blick­feld gera­ten. Der Europäi­sche Ge­richtshof für Men­schenrechte rügte jetzt, auf den Radi­kalenerlaß gestützte Diszi­plinierun­gen von Be­amten verstie­ßen ge­gen die Mei­nungs- und Ver­eini­gungs­frei­heit. Er gab einer Klage einer aus dem Staats­dienst entlassenen DKP-Kommu­ni­stin statt. Der Radikalen­erlaß war eine Ver­einbarung zwi­schen den Mi­ni­sterprä­si­denten der Länder und dem Kanzler vom 28.1.1972. Er regelte die Ab­leh­nung von Mitgliedern "radi­ka­ler" Parteien als Be­amtenbewer­ber und sah vor einer An­stel­lung eine Regel­an­frage bei den Ver­fas­sungsschutzbe­hör­den vor. Betroffen wa­ren Mitglieder von zwar nicht verbote­nen Parteien, die aber von den Mini­stern für verfassungsfeind­lich ge­­halten wurden. Als bloß informel­ler Be­schluß brauchte er nie förmlich au­ßer Kraft gesetzt zu wer­den. Seit Ende der 70er Jahre wand­ten die SPD-regierten Länder den Radi­ka­lenerlaß nicht mehr an. Ohnehin reich­ten der Rechtsprechung pauschale Ver­­dachts­gründe wie eine Par­tei­zuge­hö­rig­keit al­lein nie aus.

Heute "be­ob­­ach­ten" neu­gierige Mini­ster Re­pu­blika­ner, weil einzelne Par­tei­mit­glieder schlim­me Gedichte über Asyl­be­werber ver­breitet haben. Darum sei die Partei verfassungsfeindlich, und darum führen die Länder Dis­ziplinarverfahren ge­gen beamtete Re­pu­­bli­kaner. Vorgewor­fen wird die bloße Parteizugehörigkeit. Erste Gerichtsent­scheidungen sehen darin jedoch kein vorwerfbares Verhalten. Es komme nur auf den individuellen Fall und die Verfassungstreue des jeweiligen Be­amten an. Trotzdem und trotz des Ur­teils des Straß­burger Ge­richtshofs ist kaum zu er­warten, daß die Innen­minister diese Verfah­ren frei­wil­lig stoppen. Wie der SPIE­GEL die­ser Woche berich­tet, wer­den sie sogar for­ciert. Für die nahe­lie­gen­de Frage fin­den sich kein Klä­ger und kein Richter: ob die Innenmi­ni­ster mit ih­rem Ra­dikalener­laß etwa nicht nur euro-amt­­li­che Men­schen­rechtsbre­cher, son­­dern darum auch selbst Ver­fas­sungs­feinde sind. Beam­tete Re­pu­bli­kaner müs­sen wohl weiter mit diszi­pli­­nari­schen Maß­nah­men rechnen. Die be­­son­dere Pi­kante­rie: Als Gegnern der Maas­tricht-EU bleibt ih­nen vorerst nur der Trost, wie je­ne DKP-Leh­rerin der­einst in vielleicht 20 Jahren aus­ge­rechnet von ei­nem europäi­schen Ge­richt re­ha­bi­li­tiert zu werden.

Unterdessen haben vierzig deutsche Staats­rechtslehrer, an der Spitze v.Ar­nim, in einem Aufsehen erre­genden Ap­pell den Bun­des­rat aufge­fordert, dem jüngsten Bonner Diätencoup und der Grundge­setz­än­derung die Zu­stim­mung zu versa­gen. Jede auto­matische An­koppe­lung an die Ge­häl­ter des öf­fentli­chen Dien­­stes - ent­schied das Bundesverfassungsgericht schon 1975 - wäre ver­fas­sungs­widrig. In Bonn hat man aber die Macht, das bisher Ver­fas­sungs­feindliche zum neuen Ver­fas­sungsrecht zu ma­chen. Ge­genüber dem Volk er­weist sich der Bun­destag ein­mal mehr als fakti­scher Souve­rän: Die Bon­ner Abgeord­ne­ten ma­chen das Ver­fas­sungs­recht und än­dern es lau­fend - zu ih­ren Gunsten! "Über die für Ver­fas­sungs­än­de­run­gen er­forderli­chen Zwei­­drit­tel­mehr­hei­­ten ver­fü­gen die Groß­par­­tei­en­kar­telle" Arnim zu­folge "bei Ent­schei­dungen in ei­gener Sa­che oh­nehin re­­gel­mäßig."

Vom Soldaten-sind-Mörder-Beschluß bis zum Kru­zifix-Urteil und vom Staat-als-Parteienbeute zum Diäten-Skandal - die tra­gen­den Verfassungs­or­gane kom­men kaum noch aus den Schlag­zeilen. Die Glaub­würdigkeitskrise von Verfas­sungs­ge­richt und Bundestag hatte Folgen. Die Bay­ern wollen künf­tig we­nig­stens kom­munal mit­ent­schei­den. Hätte zur Ab­stimmung ge­standen: das Volk solle künftig über Kruzifixe entscheiden und die Diätenhöhe festsetzen, kein Zweifel, wie das Volk ent­schieden hätte. Der kommunale Volksentscheid ist nur der Anfang.

Ohne Heiligenschein

Schreckliches las man im Bericht der Ver­fas­sungskommission des 12.Bun­des­ta­ges: "Probleme der Ver­fas­sung und der Ver­fas­­sungsreform sind letztlich politi­sche Machtfra­gen." Die Abgeordne­ten haben sich das zu Herzen genommen und pro­ben ihre Macht über die Diäten. Es zeichnet sich ab, daß ihre Macht diesmal nicht ganz reicht. Für Praktiker hat die Verfassung schon lange keinen Heili­gen­schein mehr. "Recht hat mit Mo­ral nichts zu tun," schrieb der BGH-Richter v. Maltzahn in der FAZ: "Recht ist das, was durch­zu­set­zen man die politische Macht hat und was dem Vol­ke nützt, wo­bei der Nutzen des Vol­kes von denen be­stimmt wird, die die Macht ha­ben." Auch was verfas­sungskon­form- oder -widrig ist, ent­scheidet, wer die Macht zu dieser Ent­scheidung hat.

Es kracht in den Fugen des Partei­enstaa­tes. Daß sich der Diätenstreit zu ei­ner Machtprobe zwi­schen Bundes­tag- und Bundesrat ausge­wach­sen hat, ist da­bei noch das geringste Übel. Ver­heerend für die politische Klasse ist hinge­gen der fort­schreitende Legitimitäts­verlust sei­ner tra­gen­den Institu­tionen: Bun­destag und Ver­fassungsge­richt. Die junge Garde der Karls­ruher Richter hat in Juri­sten­kreisen längst den hervorragenden Ruf verspielt, den bedeutende Juristen dem Gericht in jahrzehnte­langer Arbeit verschafft hatten. Wenn das Pokern um einen Richtersitz nur noch eine Proporzfrage zwi­schen Par­teien ist und die Grü­nen jetzt auch end­lich einen Richtersitz wollen, wird die Spitze der dritten Gewalt zu einem Par­lament im Kleinen, in dem es um Recht nicht mehr geht. Schon leisten den Lö­wenanteil der ju­risti­schen Knochenarbeit nicht mehr Richter, de­ren Be­fähigungs­nachweis sich in parteipoliti­scher Linien­treue erschöpft, sondern ein Fußvolk wis­senschaftlicher Mitarbeiter mit Prädikats­ex­amina. Es un­terfüttert im Einzelfall schon ein­mal die politisch gewünschten Entscheidun­gen mit soeben noch vertret­ba­ren Rechtskonstruk­tionen.

Schlimmer noch für den Parteienstaat ist der Legitimitätsverlust seines Herz­stücks: des Par­la­ments. Nicht daß es auf die nu­merische Höhe der Diäten ankäme. Quali­fizierte Volksvertreter dür­fen ihren Preis haben. Wenn allenfalls Be­rufs­schul­lehrer Mandate noch lukrativ finden, dür­fen wir uns nicht wundern, daß die Fähig­sten wo­an­ders verdienen. Das Problem liegt viel­mehr in der verfas­sungs­rechtli­chen Über­macht des Bundesta­ges, ohne wirksame demo­kratische Kontrolle zu handeln. Die Parlamente entstanden als Kontrol­leure der Regierungen souveräner Fürsten. Heute ist der Bun­destag der ei­gentliche Souverän: Er macht die Ge­set­ze, und er hält sich eine von ihm jederzeit ab­hän­gige Regierung nebst zwei Senaten hand­ver­le­sener Verfas­sungsrichter. Von der Rege­lung der ei­ge­nen Diäten bis zur Starterlaubnis un­serer Tornados: Alles darf das Parlament. Doch wer kontrol­liert heute die einstigen Kon­trolleure?

Es sind die großen Parteien, nach de­ren oli­gar­chischen Spielregeln über Wahlli­sten vor­entschie­den wird, wer für die nächste Wahlpe­riode Abge­ordneter sein darf und wer nicht. Wer nun wieder übt die demo­kratische Kon­trolle aus über die gro­ßen Parteien als wahre Träger der Macht im Par­tei­enstaat? Wer diese Frage unbeant­wortet lassen muß, verneint damit die demokratische Legitimi­tät des totalen Par­teienstaats.