Wenn
sich Gläubige verschiedener Weltanschauungen mit ihren "Göttern"
und deren Gesetzen wappnen, empfinden sie jeden Angriff
auf diese Götter als Angriff auf ihre eigene Identität. Gläubige
Herzen vermögen das nicht zu ertragen. Sie dulden keine
Götter neben ihren eigenen. Wehe, wenn Normativisten
aneinander geraten! Die Vorstellung eines Dauerkonfliktes
[1]
zwischen widerstreitenden
Prinzipien gruselt sie, so daß sie stöhnen: "Die
rein subjektive Freiheit der Wertsetzung führt aber
zu einem ewigen Kampf der Werte und der Weltanschauungen,
einem Krieg aller mit allen, einem ewigen bellum
omnium contra omnes, im Vergleich zu dem das alte bellum
omnium contra omnes und sogar der mörderische Naturzustand
der Staatsphilosophie des Thomas Hobbes
wahre Idyllen sind. Die alten Götter entsteigen ihren
Gräbern und kämpfen ihren Kampf weiter, aber entzaubert
und
...
mit neuen Kampfmitteln.
...
Was für den einen der Teufel ist, wird für den anderen
der Gott. 'Und so geht es durch alle Ordnungen des Lebens
hindurch ... und zwar für alle Zeit.' Mit solchen ergreifenden
Worten Max Webers
könnte man viele Seiten füllen."
[2]
Jedem
Gläubigen ist die Vorstellung ein Greuel, sein Gott könnte
gleichberechtigte Götter neben sich dulden oder müßte
gar mit feindlichen Göttern kämpfen. Er möchte die Welt
aus einem Prinzip erklären und nicht aus einander widerstreitenden.
Der Katholik Donoso
verweist die Koexistenz mehrerer gegensätzlicher Ordnungsprinzipien
ins Absurde, "weil zwei Götter, die sich widersprechen,
und zwei Wesen, die einander abstoßen, durch die Natur
der Dinge verurteilt sind zu einem ewigen Kampf."
Das Böse ist darum nicht wirklich: Es ist nur mangelndes Gutes.
Wenn beide auf essentielle Weise existieren würden, könnte
kein Prinzip das andere besiegen, und "aus der Unmöglichkeit
des Sieges, des objektiven Zieles des Kampfes," folgen
die Unmöglichkeit und der Widersinn des Kampfs überhaupt.
[3]
Indessen
entsteigen dem skeptischen Dezisionisten eben keine Götter
ihren Gräbern. Sein nüchterner Blick erkennt hinter jeder
Ideologie stets diejenigen Menschen, die sich der Vorstellung
kämpfender Götter zu ihrem Nutzen bedienen. Nie wird
er wähnen, man brauche nur ein Eigenschaftswort oder
Verb zu substantivieren, und so entstünde flugs aus schwarz "die Schwärze" oder
aus laufen "der
Lauf" als ein reales Ding. Gerade so gehen aber viele
Normativisten insgeheim vor: Sie
hypostasieren das mißbrauchte Wort: machen es also
zu einer Wesenheit, die ihr Weltbild regiert. Tatsächlich
gibt es aber nicht die
Schwärze, es gibt nur schwarze Dinge; es gibt nicht den
Lauf, es gibt nur Menschen oder Tiere, die laufen; es
gibt nicht die Liebe und den Frieden, sondern nur liebende Menschen und Menschen, die gerade
nicht gegeneinander kämpfen. Schon 1540 hatte Lorenzo
Valla
durch eine solche Sprachkritik das aristotelische System
der Kategorien und damit das Rückgrat der scholastischen
Metaphysik gebrochen.
[4]
Damit hat er bis heute allen
seriösen Ansätzen den Boden entzogen, Ideologien auf Sprechblasen
zu gründen. Abstrakte Begriffe existieren nur in unseren
Köpfen.
[5]
Ockham prägte den als "Rasiermesser"
bezeichneten Satz, man solle die Anzahl der für wirklich
gehaltenen Phänomene nicht ohne Notwendigkeit vergrößern,
also nicht Begriffe für außerhalb unseres Denkens wirkliche
Gebilde halten.
Dagegen
glauben Ideologen, Moralisten, Fromme und andere Normendiener,
ihre Ideen und Begriffe gäbe es nicht bloß in ihrem Kopf,
sondern auch außerhalb. In ihrem Licht erscheinen bestimmte
menschliche Verhaltensweisen als tugendhaft und richtig,
andere als Untugenden oder Sünden. Alle Ideen, die er sprachlich
zu einem Substantiv aufblähen konnte, hielt Platon
für wirkliche Wesenheiten. Auch die Scholastik verteidigte
ihre vom Menschen unabhängige Existenz. Im mittelalterlichen
Universalienstreit bezog sie mit diesem neuplatonischen
Ideenrealismus Position gegen Ockhams
Nominalismus. Den Inbegriff der normativen Bestandteile
ihrer Ordnung nannte sie ihr Gutes, und den Inbegriff des ihr Widersprechenden
ihr Böses. Weil
dieses Gute und Böse aber nichts als substantiierte Adjektive auf hoher Abstraktionsebene
sind, findet sie der Normendiener nur in seinem Kopf vor.
Trotzdem glaubt er heftig daran, sie seien nicht
bloß für ihn wirklich vorhanden. Dieser Glaube an die
reale Wesenheit bloßer Eigenschaften, ist sein untrügliches Erkennungszeichen. Der Idealismus
ist die erkenntnistheoretische Grundlage des Normativisten.
Er ist von seiner Idee begeistert, weil er an transzendente Geister glaubt, an Ideen, Ideale,
Ideologien und andere Spukgebilde. Er denkt sich wahlweise
einen ganzen Himmel von ihnen, angeführt vom großen Geist
seines Gottes, oder eine Mutter Natur, deren göttliche
Seele alles Irdische erfüllt.
Dagegen
wendet der Dezisionist erkenntnistheoretisch den Nominalismus
Ockhams
: Bloßen Eigenschaften spricht er keine eigene Substanz
zu, keine seinsmäßige Existenz. Je mehr Realität oder Sein
ein Ding hat, desto mehr Attribute kommen ihm zu. Folglich
hat die bloße Eigenschaft für sich die geringste Realität.
[6]
Bloße Eigenschaften nicht,
wie die Metaphysiker, für substantielle Dinge zu halten, ist die Leistung einer
nominalistischen Denktradition. Sie begann im 14.Jahrhundert
mit Ockham, setzte sich mit der humanistischen Sprachkritik
fort und wurde auch von Hobbes
[7]
und Spinoza zugrunde gelegt.
Aufklärer wie La Mettrie
wandten sie konsequent an. Spätestens mit Comte
fand sie ihren konsequenten Abschluß. Sie sieht Begriffe
wie den des Guten oder den der Ehre als bloß konventionelle
Namen für Eigenschaften, Gefühle oder Verhaltensweisen
an. Viele haben den Weg zurück gesucht. Sie verstrickten
sich alle in geistigen Gefängnissen und ideologischen
Fesseln. Heute ist es nicht die Bläue des Himmels oder die Güte Gottes, sondern etwa die Humanität, die für eine Realität
gehalten wird statt für eine Eigenschaft. Eine Eigenschaft
für eine reale Sache zu halten, wird gefährlich, wenn
man auf sie als Wert eine Ideologie baut und konkrete
Verhaltensanweisungen an seine Mitmenschen von ihr ableitet.
Damit
kein Mißverständnis aufkommt: Daß es nicht die Liebe als abstrakte Wesenheit gibt,
heißt natürlich nicht, daß nicht ein Mensch den anderen heftig
lieben kann; und daß es die
Gerechtigkeit nicht gibt, hindert niemanden an einem
von ihm für gerecht gehaltenen Urteil. Die Liebe wie alle
anderen substantivierten Umschreibungen von Gefühlen
bleibt aber unbedingt angewiesen auf jemanden, der sie
empfindet, wie die Gerechtigkeit auf jemanden, der ein Werturteil
fällt. Natürlich gibt es Ideen tatsächlich. Nur: wo befinden
sie sich, und wer erzeugt sie? Idealisten wie Platon
sehen sie an einem "Ort jenseits des Himmels",
der Nominalist bloß im Kopf: Ohne Erzeuger, ohne einen
Kopf, der sie sich denkt, endet das Sein aller dieser schönen
Worte wie das Licht, wenn die Glühbirne kaputt geht. Es
gibt keinen Geist und keine Geister, sondern nur Menschen,
die fühlen und denken. Wenn wir abstrakte Ideen wertschätzen,
sind sie zwar als unsere Werte wirklich vorhanden, aber
eben nur in uns. Sie sind existentiell von uns abhängig,
und darum sollen wir sie beherrschen und benutzen und
nicht zu ihren Dienern werden. Wer um das Gute einen Heiligenschein malt und sich davorkniet, hat das
ebensowenig begriffen wie der Verlierer eines Prozesses,
der im Gerichtsflur die Figur der Justitia verflucht, weil sie verbundene Augen hat.
Wer
wie Ockham
Begriffe als bloße gedankliche Abstraktionsleistungen
erkennt, benutzt Prinzipien pragmatisch, wie sie sich ihm
eben anbieten. Er käme aber niemals auf die Idee, etwa für
eine abstrakte "gute Sache" zu sterben. Menschen
schreiben Ideen auf ihre Fahnen, und mit den sie tragenden
Menschen kann man diese Ideen überwinden. In der konkreten
Wirklichkeit des politischen Seins, formulierte Schmitt,
kämpfen keine abstrakten Ordnungen und Normenreihen,
sondern immer nur konkrete Menschen oder Verbände gegen
andere. "Das Leben kämpft nicht mit dem Tod und der
Geist nicht mit der Geistlosigkeit. Geist kämpft gegen
Geist, Leben gegen Leben."
[8]
Es gibt keine Werte außer
in unseren Köpfen, und es kämpfen auch keine Werte gegeneinander,
sondern es kämpfen nur konkrete Menschen im Namen von
Werten gegeneinander.
[9]
Darum ist der Dezisionist
realistisch und pragmatisch.
Wenn
er sich einer Ideologie bedient und gezielt-pathetisch
seine Götter und Werte beschwört, behält er stets die
reservatio mentalis, die ihn im letzten Winkel seines Hinterstübchens
leise über sich selbst lachen läßt, wenn seine Fahnen fliegen.
Der Normenbenutzer kann sich die distanzierte Selbstironie
erlauben, zu der unfähig ist, wer vor seinen selbstgeschaffenen
Göttern und ihren Geboten auf den Knien herumrutscht. Er
weiß um die aus seiner eigenen Freiheit hervorgehende
wahrheitsbildende Kraft: Seine Wahrheitsfindung ist
immer bewußte Wahrheitserfindung. "Jedes Urteil,"
das er über ein Objekt fällt, erkennt er als "Geschöpf
seines Willens", an das er sich nicht verliert. Er
bleibt der Schöpfer, der Urteilende, der stets von neuem
schafft.
[10]
So formuliert Safranski
im Sinne Stirners: "Dieses Denken kommt aus der Erfahrung
der Freiheit. Sie kann uns darüber belehren, daß wir zwar
Wahrheiten brauchen, aber auch das richtige Verhältnis
zu diesen Wahrheiten finden müssen. Wir benötigen
Souveränität, die zur Ironie und Selbstdistanz befähigt."
Wer das vergißt, wird zum Diener und eifernden Propheten
seiner Wahrheit. Er verliert seine Freiheit gegenüber
den eigenen Gestaltungen und Erfindungen.
[11]
Fortsetzendes
Kapitel: Determinismus und
teleologisches Denken