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Erlösung durch Diskurs

Erlösung durch Diskurs

 

Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S. 148 ff.
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Der Liberalismus ist die letzte der drei großen Erlösungsutopien der Neuzeit. Wie auch der Katholi­zismus und der Sozialismus möchte er die ge­nuin menschliche Tragik, die Feindschaft, den Kampf und den Tod auf­he­ben. Mit dem So­zia­lis­mus verbin­det ihn gegenüber dem Katholizismus die Vorstellung des an sich guten Men­schen, wobei die spezifische Güte des li­beralen Men­schen seine Vernunftbegabung ist. Dieser gilt es nur zum Durch­bruch zu verhelfen. Der Katholizismus hatte das Scheitern des Mensch­lichen am Men­schen auf die sündhafte Abkehr des Men­schen von Gottes Ordnung zurückgeführt. Er ver­spricht Erlösung des Menschen durch seine Rückwendung zu dieser Ordnung. Die göttliche Ord­­nung selbst wird, nach treffender Beob­achtung Kondylis, als Fix­punkt ins Jen­seits verlegt und so unan­greif­bar gemacht. Nur unter dem Walten dieser Ordnung auf Erden kann der Mensch und kann die Ge­sellschaft sich auch im Diesseits der Er­lö­sung nähern, wor­aus sich notfalls die Dik­ta­tur derje­nigen Menschen recht­fertigen läßt, die diese Ord­nung auf Erden durchsetz­ten.

Dem­gegenüber setzen der So­zialismus und der Liberalismus als profane Heils­ideologien nicht einen persönlichen Gott oder eine gött­li­che Ordnung an den Himmel eines vorgestellten Jen­seits, son­dern ver­legen okkulte Prin­zi­pi­en ins Diesseits. Diese er­füllen für sie den­sel­ben Zweck wie für den Christen die Maximen der göttli­chen Ord­nung. Für den Christen ist die Seele das we­sentli­che am Menschen. Sie hat sich dem göttlichen Geiste entfremdet und im Diesseits ver­fan­gen. Gott erlöst den vom bösen Irdi­schen ge­fes­sel­ten Sünder, in­dem er seinen Geist davon emanzipiert und in die himmlische Freiheit ent­läßt. Christlich verstanden ist Freiheit das Frei­sein des Gei­stes vom em­pi­ri­schen, körperlichen Diesseits.

Die Aufklärung gebar zwei Kinder: Das eine ging den em­pi­ris­­ti­schen Weg zum P ositivismus und kehrte sich von jeder Meta­phy­sik ab. Das an­d­ere versetzte die alten metaphysischen Illusio­nen bloß in die idealisierte Natur eines abstrakten Men­schen an sich. Die wirk­li­chen Men­­schen er­schienen im Lichte solcher fixen Ideen als un­voll­kom­­me­ne, erlösungsbe­dürftige Kreatu­ren, als von ih­rem eigentlichen Wesen ent­­fremdet. Ihnen versprechen unter­schiedli­che Ideologien die Auf­­he­bung die­ser Entfrem­dung, die Emanzipation vom un­voll­kom­me­nen kon­­kreten Menschen und die Schaffung eines neuen. Hier liegt die gemeinsame Wurzel von Libera­lismus und So­zia­lis­mus. Bis zu diesem Punkt bleiben sie im Wesenskern identisch; und an die­sem Punkt müssen Linke und Liberale sich zwangs­läufig wieder tref­fen, wie das Bei­spiel Habermas' exemplarisch zeigt: Als Vertreter einer neu­en Linken zu Einfluß gekommen, endete sein geistiger Weg fol­gerichtig in idealtypisch li­beralen Positio­nen wie dem Glauben an die Wahr­­­heit durch ewigen Diskurs. Der innerste Beweg­grund ist aber die Sehnsucht nach einem Ende von "Entfremdung" und "Herr­schaft." Die Entfremdung von einem idealen Sein und die nötige Eman­­zi­pa­ti­on von der un­geliebten Realität sind der gemein­same Aus­gangs­­punkt der großen nor­mativen Ent­würfe: des theologischen und wie der mo­der­nen Ersatzreligio­nen. Auf der ande­ren Seite der Barri­kade da­­ge­gen ist es einsam. Hier streiten immer nur wenige. Sie sind ohne Hilfe und frei von Göttern und Geistern wie dem der Hu­ma­nität.

 In ei­nem un­über­brück­ba­ren Gegensatz zu­ein­an­der stehen Libe­ra­lis­mus und Sozialismus nach Beobachtung Carl Schmitts aber, weil das li­be­­rale Einzelmenschbe­wußt­sein und das demo­kratische Ge­mein­schafts­­be­wußt­sein mit­ein­ander logisch un­vereinbar sind. Hin­ter­grund dieser Beobach­tung ist die Doppelnatur des Men­schen als Indi­vi­duum und Gemein­schafts­we­sen. Für den reinen Verstand handelt es sich dabei um einen nicht a uf­heb­ba­ren, kontradiktorischen Gegen­satz. Eine auf wirkliche Men­schen zugeschnittene politische Theorie muß beide Ge­sichts­­punk­­te berück­sich­tigen, sonst hat entwe­der der Mensch unter allei­ni­ger Geltung der Rous­seau'schen volonté générale keine indivi­duelle Frei­heit mehr, oder un­ter alleini­ger Geltung in­di­vi­du­eller Auto­nomie löst sich die Ge­mein­schaft auf, welcher das In­di­vi­du­um zur nach­hal­ti­gen Siche­rung seiner in­divi­duel­len Freiheit aber be­darf. Ge­mein­schaft und Gesellschaft sind also Ge­genpole nur in der Idee. Tat­säch­lich bil­den alle konkreten Kol­lektive eine Gemeinschaft und eine Ge­sell­schaft zugleich: Ge­mein­schaft sind sie von außen als Ganzheit be­trachtet, und Gesellschaft sind sie bei Betrach­tung ihrer In­nen­le­bens.

An dieser Stelle setzen die Gedanken Habermas an. Er möchte beide mit­einan­der in Widerspruch stehenden anthropologischen Grund­­­­­bedürf­nis­se des Menschen in ei­ner einheit­lichen politischen Theo­rie zusam­menfas­sen und die Wider­sprüch­lichkeit auf­heben. Das soll dadurch gelingen, daß er gegenüber den anthropo­lo­gi­schen Kon­stan­ten der individuellen Auto­nomie und der Gemein­schaftsbezogen­heit eine abstrakt konstruierte und als morali­sches Po­stulat verabso­lutierte neue Sicht gewinnen will: den Diskurs. Die beiden unverein­ba­ren Prinzipien sollen in ihrer Unvereinbar­keit aufge­löst werden durch den übergeordneten Gesichtspunkt des kom­muni­kativen Dis­kur­­ses und schließlich des diskursiven Konsenses. Ein im­mer­wäh­­ren­des Ge­spräch soll die bei­den antagonistischen Prinzipien auflö­sen oder neu­trali­sie­ren. Es soll den Mensch erlösen von der Ent­fremdung: der Herrschaft des Men­schen über den Menschen. Die Herrschaft mensch­licher Befehle oder Normen über Menschen soll dadurch auf­ge­hoben wer­den, daß alle Nor­­men in einem dis­kur­si­ven Verfahren zu­stan­­de kommen. Am Ende steht der Kon­sens aller oder we­nig­stens ein fiktiver Kon­­sens: Es müsse praktisch ausrei­chen, in einem for­­ma­li­sier­ten Diskurs Normen zu entwic­keln, welche die Zustim­mung aller Ver­nünftig­den­kenden fin­den könnten. Dann dürfe sich je­dermann gleich­­zeitig als Norm­unterwor­fener und als Norm­­set­zer fühlen, womit tat­sächlich die de­­mo­kratische Utopie der Selbst­herr­schaft des Men­schen über sich selbst und die Versöh­nung der ant­ago­ni­sti­schen Prin­zi­pien autonomer Selbst­­­be­stimmung und Ge­mein­schafts­be­zo­genheit erreicht wäre.

Um eine Utopie handelt es sich, weil die Realität be­kann­termaßen der kommuni­kativen Theorie nicht folgt und auch noch nie gefolgt ist. Sie ist ei­ne Ideologie, weil formell der Dis­kurs und mate­riell eine Reihe für das Funk­tio­nie­ren der Dis­kurs­theo­rie unent­behrlicher und da­her eigenem Ein­ge­ständ­nis nach nicht zu diskutie­render Werte nor­ma­tiv voraus- und abso­lut gesetzt wird. Ein Erlö­sungs­glaube ist die Dis­kursutopie, weil sie die Herr­schaft des Men­­schen über den Men­schen als angebliche Ur­sache für aller­hand Ver­­druß endgültig auf­he­ben will. Zugleich wer­den alle Inter­es­sen­ge­gen­­sätze und wird mit ihnen die Freund-Feind-Beziehung als solche im Kon­sensmodell auf­ge­ho­ben. Damit will Ha­ber­mas seinem Erz­schur­­ken Schmitt und einem Begriff des Politischen den intel­lek­tuel­len To­desstoß versetzen, der in gerade diesem Gegensatz das Kri­te­rium des Politischen sieht. Die be­ab­sich­tigte Aufhebung des Po­li­ti­schen als mensch­liches Phä­no­men über­haupt ist Kern der utopischen Idee, auf die Habermas Theo­rien von Anbe­ginn hinauslaufen.

Gegenüber der auf die Wahrheitsfindung im ewigen Diskurs ge­stütz­ten Erlö­sungs­hoffnung wird zum Erzteufel, wer das Gegen­prin­zip der Ent­schei­dung vertritt. Die definitive Entscheidung und der ewi­ge Diskurs sind an­tagonistische Prinzipien. Wer wie Carl Schmitt einen aus religiösem Glau­ben gespeisten Wahrheitsbegriff vertritt, für den kann und muß es ei­ne Ent­scheidung für oder gegen diese Wahr­heit geben. Weil es nur Wahr­heit und Falschheit gibt, ist jede Dis­kus­sion darüber von vornherein sinn­los, und das ewige Gespräch über dem Glauben evidente Wahrheiten ist eine gespensti­sche und absurde Ver­­an­stal­tung. Wer dagegen gerade den Verzicht auf ein definitives Re­sultat im immerwährenden Diskurs für die Voraussetzung hält, so etwas wie eine Wahrheit zu finden, dem wird jede Entscheidung, die das Ge­spräch beendet, als entsetzlicher Fehler erschei­nen: Er muß zum Ver­lust des ewigen Wahr­heits­findungsprozesses führen.

 Die Diskursutopie muß allerdings immer mit dem Widerstand der­jeni­gen rech­nen, die nicht den Diskurs und den Konsens sondern an­dere Kampfarten bevorzu­gen. Diesen Geg­nern gegenüber kann sie sich entwe­der unter Ver­zicht auf ihre eige­nen Voraussetzungen mit autori­tativen Mi­tteln durchset­zen und sich in­soweit selbst aufgeben, oder sie bleibt eben Utopie. Die Dis­kurstheo­rie kann nur zur allge­meinen Menschheits­harmo­nie führen, wenn sie diese mit gar nicht dis­kur­­siven Waffen zu erzwingen sucht und sich so selbst negiert. So­lange sie das nicht ge­schafft hat, muß sie mit der Existenz ihrer Geg­ner rech­nen und le­ben. Vorläufig ist, mit den Worten Donosos, die libe­rale Schu­le darum emsig damit "beschäftigt, alle einander wi­der­­strei­ten­den Theo­rien und alle Widersprüche der Welt zu ver­pflich­ten, mit­ein­ander Frie­den zu schließen" [1] und diskursiv zu be­sänf­ti­gen.

Wer gesellschaftliche Vorgänge auf Selbstregulie­rung reduzieren möchte und darauf vertraut, es werde sich die gewünschte Balance der Kräfte von selbst einstel­len, hebt die Politik nicht auf, wen n er das auch gern möchte. Das könnte er auch nicht, weil Politik immer der Inbegriff des konkurrieren­den Wettstreits konkreter Men­schen ist. Den wird es ge­ben, solange es Men­schen gibt. Als Inbegriff der Aus­ein­andersetzung von Menschen gegenein­ander hat die Politik ei­nen je­dem Do­mestizierungs­ver­such widerstrebenden Kern. Dieser ist dem Li­be­ralen unheimlich, und er möchte gern die Politik als Phäno­men und mit ihr die agonale Ausein­an­dersetzung von Menschen an sich abschaffen. So gibt Habermas offen zu, worauf seine Utopie hin­aus­lau­fen soll: Die "Zähmung naturwüchsiger politischer Gewalt" in ei­nem dis­kursiven Gesetzgebungs­verfahren darf nicht nur "als Diszi­pli­nierung ei­ner in ihrer Substanz unbeherrschbar kon­tingenten Wil­lensmacht begriffen wer­den. Sie löst vielmehr diese Substanz auf und überführt sie in eine »Herrschaft der Ge­setze«, in der sich allein die politisch autonome Selbstorganisation der Rechts­ge­meinschaft aus­drückt." [2] - Da lacht Carl Schmitt und antwortet mit Hobbes: Ein ge­schlossenes Legalitätssystem ist eine nor­ma­tivisti­sche Fiktion, die in auf­fälligem und unabweisbaren Gegensatz zu der Legitimität eines wirklich vorhandenen Wil­lens steht. [3] Herr­schaft des Rec hts kann daher nie etwas anderes bedeuten als Herr­­­schaft der­jenigen Men­schen, die dieses Recht setzen. [4]

Wenn Ha­­ber­mas die ge­setz­ge­ben­­den Menschen hinter einer fin­gierten Herr­schaft der Ge­setze ver­stec­ken möchte, bewegt er sich ar­gu­men­ta­tiv in klas­sisch liberalen Denk­­gewohnheiten. Diese können nur immer wie­der auf dieselbe über­holte Be­griffsmetaphysik zurück­grei­fen: "Man such­­te zu Ehren der Entität, die mit dem Namen 'Ge­setz' geziert wur­de, eine Art meta­phy­si­schen Kultus zu errichten, der zur Herrschaft der Juristen ge­führt hat," [5] war schon Comte aufge­fal­len. Sein Zeitge­nosse Stirner hatte sich über die Neigung der Li­be­­ra­len belustigt, lieber Fiktionen und Begriffen zu gehor­chen als wirk­­­li­chen Men­schen, und er hatte auf seinen Ent­stehungs­zusam­men­hang aus dem Protestantismus hingewiesen: »Du sollst Gott mehr ge­hor­chen als den Menschen!« So gehorcht auch der Liberale lieber einer Idee: "Was will das Bürgertum damit," fragte Stirner, "daß es gegen je­den per­sönli­chen, d.h. nicht in der 'Sache', der 'Vernunft' usw. be­grün­de­ten Befehl eifert? Es kämpft eben nur im Interesse der 'Sa­che' ge­gen die Herrschaft der 'Personen'. Sache des Geistes ist aber das Ver­nünftige, Gu­te, Gesetzliche usw.; das ist die 'gute Sache'. Das Bür­­gertum will einen un­persönlichen Herrscher." [6] So möchte der Liberale die Existenz des per­sönlichen Be­fehls­habers wie die des persönlichen Feindes leugnen oder aus der Welt schaffen.

Unsichtbare Feinde und stets imagi­nierte Gegner sind alle Rea­li­sten. Sie setzen nämlich exi­stentielle Feind­schaft, Tragik und kon­krete Ent­schei­dung als Elemen­te unserer erlebten Realität vor­aus oder be­grü­ßen sie gar. Ihr Wirklichkeitssinn sperrt sich ge­gen "die uto­pische Kom­po­nente der westli­chen Verheißung. ... Die heutige west­liche Zu­kunfts­vision ist von ihrem universalen Um­fang und ihrem mate­riellen Ge­halt her an Radikalität kaum zu über­bie­ten. Wer sich ihr ver­schrie­ben hat, hat sich einer ge­schichts­philo­so­phisch getra­ge­nen Utopie ver­schrieben." [7] Kondylis zu­folge besteht ihr Kern in je­nen "uni­ver­sa­li­stisch-men­schen­­rechtlichen Prinzipien, die allen In­di­vi­duen als In­di­vi­ duen glei­che Autonomie und Würde zusprechen." Sie kön­nen aber nur gedei­hen, wo "eine hochdiffe­renzierte Arbeitsteilung das Kol­lek­tiv ato­mi­siert" und wo "Massenproduktion und -konsum auf vollen Tou­ren lau­fen. Ent­fallen diese Voraussetzungen, dann müs­sen die Frei­räume zu­sam­menschrump­fen, in denen sich indi­vi­duelle Selbst­ver­wirk­­li­chung, To­leranz und Konsens ent­falten." Die kommenden Jahrzehnte werden weltweite Verteilungskämpfe um Land, Boden­schätze, Arbeit und ökologische Le­bensgrundlagen mit sich bringen. Wir sollten uns dafür mit den angemesse­nen nor­ma­ti­ven Waffen eindecken und die philanthropi­schen Blütenträume der Love-and-Peace-Generation schnell vergessen.

Der Diskurs als Waffe

Im zwischenmenschlichen Ringen gibt es so viele unterschiedliche Waf­fengat­tun­gen, wie es unter­schied­liche menschliche Fähigkeiten gibt. Men­schen haben mit den Kräften roher Gewalt gegeneinander gekämpft und mit List, mit Waf­fen des Geldes und der Intrige, mit Waffen der Me­dien und der Justiz. Im Vorteil ist, wer die Waffen wäh­len kann. Die verbindliche Ent­scheidung über die Wahl der erlaubten Waffen und das Verbot über uner­laubte Metho­den entscheiden die Aus­ein­an­der­setzung. Die Macht behält, wer die Regeln regelt. Das möchte auch die Diskurstheorie. Alle po­li­ti­schen Beziehungen möchte sie in kom­­munikative Be­zie­hungen auflösen, so daß anstelle des Konflikts die Kom­munikation tritt: Es soll ein für beide Seiten "ver­nünf­ti­ges" Ergebnis gefunden werden. Der Diskurs soll den Feind in einen Dis­kus­sionsgegner verwandeln und damit das Phänomen des Poli­tischen austil­gen. - Sofern ein realer Feind über stär­ke­re Waffen ver­fügt als der Nur-Dis­kutant, ist es tatsäch­lich ver­nünf­tig, ihn lieber in ein Gespräch zu ver­wickeln als ihn seine Waffen aus­spie­len zu lassen. Aus seiner Sicht ist aber un­ter Umständen durchaus un­vernünftig, auf das Dis­kus­sions­an­gebot e in­­zu­gehen. Eine beide Kon­trahenten über­grei­fende Ver­nunft, welche den Diskurs als al­lei­ni­ges Kampfmittel ge­bie­tet, gibt es nur im Ausnahmefall: wenn bei­de Gegner ausschließlich über solche Waf­fen verfügen, de­ren bei­der­sei­tige Anwendung beide ver­nichten würde. So er­weist sich der Dis­kurs wieder einmal als kon­krete Stra­te­gie, als Waffe der Diskussions­star­ken im mensch­lichen Kon­kur­renz­kampf.

In einer ar­chai­schen Umwelt roher Gewalt herrschten die Stärk­sten und Bru­tal­sten. Sie wä­ren nie auf eine andere Idee ge­kommen, als daß der Starke zu Recht herrscht. Zu Zei­ten des Odys­seus machte ihnen aber schon die Schläue Kon­kurrenz. Sie konn­ten ihre Anwendung nicht hindern, und so unterlagen sie. Die Al­ler­­schlausten der Schlauen ka­men auf die pfiffige Idee, Rohheit und Gewalt für im­mer aus dem Ar­senal der erlaub­ten Waffen zu verban­nen und durch Schläue zu er­set­­zen. Platon forderte ei­nen durch Phi­losophen re­gierten Staat, womit er natürlich sich selbst und seine Zunft­brüder meinte. Er konnte sich allerdings nicht durch­set­zen und landete sogar vorüber­gehend auf dem Sklavenmarkt von Syra­kus. Dort muß­te er die be­drückende Erfahrung machen, daß seine geistigen Waffen nicht zähl­ten.

Daß gegen die überlegene Gewalt keine Schläue hilft und keine Moral, mußten die Bewohner der mit Sparta verbündeten Insel Melos in der Ägäis im Jahre 415 v.Chr. lernen. Die athenische Flotte landete auf Melos und wollte die Melier zu ei­nem Bündniswechsel im Pelo­ponnesischen Kriege er­pressen. Diese zogen die Athe­ner in Ver­hand­lungen. Sie beriefen sich ver­zweifelt auf die Götter, die Ehre, die Treue, das Recht und die Moral. Unge­rührt antworteten die Athe­ner: Daß alles die­ses auf Seiten der Melier ist, bestreiten wir über­haupt nicht. Doch wißt ihr eben­so gut wie wir, "daß das Recht im mensch­li­chen Verkehr nur bei gleichem Kräfte­ver­hältnis zur Gel­tung kommt, die Stärkeren aber alles in ihrer Macht Stehende durch­set­zen und die Schwachen sich fügen. ... Wir glauben nämlich, daß der Gott wahr­scheinlich, der Mensch ganz sicher allezeit nach dem Zwang der Na­tur überall dort, wo er die Macht hat, herrscht. Wir ha­ben dieses Ge­setz weder aufgestellt noch als bestehendes zuerst be­folgt. Als gege­ben haben wir es übernommen und werden es als ewig gül­tiges hinter­lassen." [8] Als sich die Melier trotzdem nicht fügten, wur­den nach heftigem Kampf alle Männer getötet und die Frauen und Kin­der in die Sklave­rei verkauft.

Über solch abgebrühtes Macht­den­ken mag ein Moralist bitter räsonie­ren. Wich­tig für uns ist aber, daß die Berufung auf dis­kur­sives Ver­­handeln, auf Moral und Recht nicht nur in der Antike dem­je­ni­gen gegen einen Stär­keren nichts nützt, der sei­nerseits seine Existenz auf dem Spiel stehen sieht und sein Handeln gar nicht von vernünftigem Ver­­handeln abhängig ma­chen will. Wie wir in jeder beliebigen Nach­rich­tensendung an je­dem be­liebigen Tage nach­­voll­zie­hen können, pfle­gen auch heute noch allerorten in der Welt die Stärkeren den Sieg ent­schieden dem Ver­han­deln vor­zu­zie­hen . Diese menschliche Nei­gung muß eine politische Theorie in Rech­nung stellen, die den An­spruch erhebt, sich mit der Realität dieser Welt und die­ser Menschen zu befassen und nicht nur mit der Welt, wie wir sie lieber hätten, wie schon Machiavelli [9] süf­fisant bemerkt hatte.

Die meisten Menschen bedienen sich, bewußt oder unbewußt, der­selben uralten und erfolgreichen Strategie: Sie bauen sich um ihre Fähigkeiten herum ein Weltbild auf, das ihnen die Anwendung ihrer spe­zifischen Ta­lente erlaubt und die Waffen der Konkurrenten verbie­tet. Der Jurist packt Strei­tigkeiten justizförmig an, der Leh­rer päda­go­gisch, der Kaufmann öko­no­misch, und der Pfarrer empfiehlt gehöriges Be­ten. Sie alle suchen sich mit einem Wall von Tu­genden und Nor­men zu umgeben, die, konsequent ange­wandt, allei­nigen Gebrauch ihrer spezifischen Talente erlauben und die An­wen­dung aller anderen Waffen verbieten. Die Grundidee jeder Konflikt­stra­tegie be­steht immer darin, die ei­genen Waffen zur Anwendung und die geg­ne­rischen in Verruf zu bringen. Diesen Verruf leistet die Moral.

Um Wertschätzungen herum baut der Mensch eine spezifische Tu­gend- und Untugendlehre, eine Religion oder Philosophie, die aber bei allem an­ge­wandten Scharfsinn immer nur auf das eine hinausläuft: Recht­­fer­ti­gung der eigenen ange­wandten Stärken und Tabuisierung der geg­ne­rischen. Die eige­nen Fähigkeiten schätzt nämlich jeder hoch ein und fürchtet die seiner Fein­de. So sind Ideen und Ideologien stets Sym­bole und Waf­fen im zwi­schen­menschli­chen Ringen um Ein­fluß, Aner­kennung und Wohl­stand. Sie dürfen nicht zum Nominalwert ihres Selbst­ver­ständ­nisses ge­nommen wer­den. [10] Da­gegen hält die idea­listische Gei­stes­­hal­tung ihre jeweiligen Ideen für wirk­lich seiende Ge­bilde, die an sich selbst zu messen sind und aus sich selbst eigen­be­rech­tigte Wirk­sam­­keit ent­fal­ten. Es sind aber im­mer Menschen, die Ge­­danken den­ken und zu ihrem Nutzen Ideen er­zeugen. Ohne die sozio­logi­sche Fra­ge, wem ei­ne Philo­so­phie, Religi­on oder Ideo­logie im rea­len Kon­kur­­renz­kampf wirklicher Men­schen gegen wen nützt, kann sie nicht ver­­stan­den werden.

Jede Ideologie hat einen verborgenen Zweck. Sie hat ihre Nutznie­ßer und Geg­ner, die sich für ihre Zwecke einer Gegenideolo­gie be­dienen. Jede Ideo­logie nennt diejenige gesellschaftliche Herr­schafts­ordnung legitim, in der sich ihre Normgel­tungsansprüche ver­­kör­pern, und alle abweichenden illegi­tim. So nennen es die Li­be­ra­len legi­tim, formulierte Do­noso schon 1851 un­über­treff­lich, "daß die Ge­sell­schaf­ten sich regie­ren durch Ver­nunft, die auf eine allge­mei­ne Weise den wohl­habenden Klas­sen anvertraut ist und auf eine be­son­dere Weise den Philosophen, welche diese unterrich­ten und lei­ten." [11] Da­mit kom­men die Libera­len den Neigun­gen dieser Philoso­phen ent­ge­gen, weil sie ihrem Dün­kel schmeicheln. "Eine Rechts­ord­nung kann nur le­gi­tim sein," nickt Habermas zustimmend, "wenn sie morali­schen Grund­­sätzen nicht wider­spricht." [12] Gern sind Philosophen be­reit, ihr mo­­rali­sches Rüst­zeug für eine Welt zu liefern, in der, wer Geld hat, die Welt regiert, weil er alle Waffen er­folgreich tabui­siert hat, mit de­nen man dage­gen an­kämpfen könnte. Erst muß natürlich der Starke ent­­waffnet werden, der Kämp­fer, in­dem die Gewalt dem Staat vor­be­hal­ten bleibt. Als näch­stes muß der Staat als Gewaltinha­ber gebändigt wer­den.

Da­zu liefert die systematische Theorie des Li­beralismus eine Reihe von Metho­den, um die Staatsgewalt zum Schutz der individuellen Frei­heit und des Pri­vateigen­tums zu hemmen und zu kontrollie­ren. [13] Ihre Krönung er­fährt sie, wenn der Staat voll­ständig dem jeweils stärk­sten privaten Interes­sendruck folgt. Damit dieser Inter­es­sen­druck auch wirklich rein ökonomi­schen Prin­zi­pien gehorcht, müssen selbst­verständlich auch alle anderen mensch­lichen Ei­genschaften als so­ziale Waffen aus­geschal­tet werden, mit de­nen die reine Geld­herr­schaft überwun­den werden könnte: Der Ent­mach­tung des erblichen Adels und seiner Vor­rechte folgt die syste­matische Gleich­schaltung aller Ta­lente:

Dem Klugen nimmt man sei­nen Vorteil in ei­nem gleich­­ma­chenden Bil­dungssystem, dem Priester durch Säku­larisie­rung, dem Sol­da­ten durch den Primat des Zivilen, bis wirklich alle, aber auch al­le gleich sind bis auf einen letzten Punkt: Sie haben unterschiedlich viel Geld. Wo aber "eine gleich­gül­tige, ohne das Korrelat einer Ungleich­­heit gedachte Gleichheit ein Gebiet des mensch­lichen Lebens tat­sächlich er­faßt, verliert auch dieses Ge­biet selbst seine Substanz und tritt in den Schat­ten eines an­deren Ge­bietes, auf welchem dann die Un­gleichheiten mit rück­sichtsloser Kraft zur Geltung kommen." Weil eine Gleich­heit in allen Le­bensberei­chen nicht herzustellen ist - das schafften noch nicht einmal die Schweine in Orwells "Farm der Tiere", in der sie noch "glei­cher waren als die ande­ren" - läuft angebliche "Gleich­heit" immer darauf hinaus: dem Konkur­renten die An­wen­dung sei­ner Fä­hig­keiten und Waffen zu neh­men, um die Bedeu­tung der ei­genen zu erhö­hen. Wenn nur noch der Diskurs erlaubt ist, siegt, wer am be­sten dis­ku­tie­ren kann. Doch nur sehr dumme Gänse werden sich mit dem schlauen Fuchs auf einen voraus­set­zungslosen Diskurs darüber einlas­sen, wer auf die Speisekar­te ge­setzt wird.

Der Liberalismus möchte die Entscheidung ersetzen durch das ewige Ge­spräch. Ehrliche Liberale erkennen das durchaus und geben zu, daß der Li­beralismus keine andere Sinnstiftungen kennt au­­ßer dem einzigen: der im­merwährenden Debatte selbst. In deren Retorte wabert - ewig im Flusse - die Wahrheit. Das bedeutet den endgültigen Ver­zicht auf die Entschei­dung selbst, also auf ein definitives Re­sul­tat. [14] Ha­­bermas nennt das die "Idee ei­nes unendlichen Ar­gu­men­ta­tions­pro­zes­ses, der einem Limes zu­­strebt", gera­de als nähere sich eine Kette von Argumenten wie eine ge­rade Linie einem idealen Grenz­wert [15] . Die­se Vorstellung erhöht vor­der­gründig die Bedeu­tung der­je­ni­gen Men­schen, die ihre Stärke im Argumentieren erblicken. Hin­ter­gründig führt sie aber zur ideo­lo­gi­schen Verankerung der Herr­schaft de­rer, die Geld haben, über alle an­deren, die bloß noch ihre Mei­nung sagen dür­­fen und sonst nichts mehr. Wie jede Utopie ent­wickelt die Dis­kurs­­theo­rie eine Sollensidee und reduziert die kom­ple­xe Wirklich­keit auf die Ursachen und Wir­kun­gen, die sich in die ei­ge­ne Theorie ein­glie­­dern und ihren Denk­ka­te­gorien entspre­chen. Dabei muß sie zwangs­läu­f­­ig die soziologische Fra­ge­stellung ver­nach­läs­si­gen, wem es kon­kret nützt, wenn man den Dis­kurs zum alleinigen Prin­zip erhe­bt.

Die Wahnidee, durch immerwährendes Ge­spräch ließe sich ir­gend­eine Art von Wahr­heit finden oder ließen sich reale Interessen­gegen­sät­ze aufhe­ben, dient als Be­ru­hi­gungspille für alle, die als Den­ker viel klü­ger, als Kämp­­fer viel stärker, als Ka­valiere viel edel­müti­ger, als Phi­losophen viel mo­ra­lischer, als Priester viel gläu­biger oder als Künst­ler viel schöp­­feri­scher wären als diejenigen, die alle an­deren durch einen ein­fa­­chen Trick von Den­kern, Kämpfern, Kavalie­ren, Phi­lo­sophen, Prie­stern oder Künst­lern zu Ver­brauchern herab­gewür­digt ha­ben. Sie alle zäh­­len jetzt nichts mehr in ihren besten An­lagen und gehorchen der Al­­lein­herr­schaft des schnö­desten aller Machtmit­tel: des Geldes. Wo der zahnlo­se Diskurs zur alleinigen Mo­ral er­ho­ben wird, die finan­ziel­le Beherr­schung anderer aber erlaubt bleibt, herr­­schen dieje­nigen, die finanziell zubeißen kön­nen. Darum ist die Haber­mas'sche Dis­kurs­theorie die "Rechtsphiloso­phie für den mo­ralisie­renden Handels­staat." [16]

Der Große Kommunikator

Wenn das ganze Volk eine einzige große Diskursgesellschaft wird, in der durch totale Kommunikation aus der Quersumme der Ideen die gelten­den Normen gebildet werden, herr­schen in Wahrheit nicht die Kommuni­kation oder der Diskurs; es herrscht vielmehr "Der Große Kommunikator", also letztlich diejeni­gen konkreten Personen, die am diskurs- und kom­munikati­onsfähig­sten sind. Sie empfehlen wärmstens den Diskurs als al­leinige Me­thode und artikulieren damit "in sub­li­mierter Form die Hoff­nung der Klein­bürger des Geistes, sie könnten härte­ren Kampfformen ausweichen, denen sie nicht gewachsen sind und in denen ihre Stimme und Existenz bedeu­tungslos wä­re." [17] So ist es kein Wunder, wenn die Geltung gerade dieser Normen der tota­len Diskursgesell­schaft an­empfohlen wird vom selbster­nann­ten Groß­­­meister der von ihm so genannten Kommunika­ti­ons­theorie: Jür­gen Habermas. Aber auch er und seinesgleichen herrschen natürlich nur insoweit, als sie tatsächlich über die Mas­­­sen­kom­munikation ver­fügen. Wem ein Privatsender gehört, der braucht nicht lesen und schrei­ben zu können. Er entscheidet aber, wer was zu Gehör bringen darf. Wer sich nicht den Optio­nen der Me­dien­mo­gule und Fern­sehin­ten­dan­ten un­terord­net, für den bleiben die Mi­kro­­pho­ne abgeschaltet. Kei­ner fragt dann mehr nach seiner Dis­kurs­fä­hig­­keit. Diskurs­theoretiker ste­hen ebenso unter Ge­setz und Diktat des Gel­des und sei­­ner In­­ha­ber wie wir wehr­lo­sen Zu­schauer, die in mit­ter­nächt­li­chen Talk­­schau­en mit im­mer­wäh­renden Dis­kursen beglückt werden.

Aus Sicht des Kommunikationstheoretikers besteht der Hintersinn der Dis­kurstheorie also, wie bei jeder Theoriebildung, in der Ver­absolutie­rung des ei­genen Machtanspruchs: Allgemein dient philoso­phische Theo­rie­bildung de­nen, die als Theoretiker ihre Machtansprü­che vor­nehm­l­­ich durch das Ent­werfen von Theorien erheben und be­frie­di­gen [18] . Im besonderen die Kom­mu­nikationstheorie hat nicht zum Zweck, aufgrund empirischer Beob­ach­tung gesellschaftliche Realität zu be­schreiben, sondern den Machtan­spruch des Kommunikations­theo­retikers zu befrie­digen, der innerhalb or­ga­nisierter Gesellschaften als Norm oder Wert auftreten muß. [19] So bleibt auch ihrem Haupt­ver­­­treter Habermas nach einem Seufzer über das Abster­ben der Me­ta­phy­­sik und des Normativismus nichts anderes übrig, als das zum Sol­len­s­­­prinzip erhobene immerwährende Gespräch selbst nor­ma­tiv zu ver­­klären: Idea­li­siert und als behaupteter Inbegriff der Vernunft an sich wird die Pro­zedur selbst zur Norm. Einer­seits habe man mit dem Nor­­ma­tivis­mus gebro­chen, an­­de­rer­seits bewahre "der Nach­fol­ge­be­griff der kom­mu­nikativen Ver­nunft ... sich noch idealistische Erb­­tei­le, die im verän­der­ten Kontext einer auf Erklärung verpflich­teten Theo­­­rie­bil­dung keines­wegs nur von Vor­­teil sind." [20]

Die Methode, einen Geltungsanspruch normativ vor­zu­tra­gen, bleibt sich aber gleich, ob man den Geltungsmodus inhaltlich oder pro­zedural be­stimmt: Wenn die katholische Kirche Kardinäle durch Papst­­­ent­scheidung beruft, die Kardinäle einen Papst wählen und des­sen Wort für unfehlbar wahr erklärt wird, hängt auch von einer be­stimm­ten Prozedur ab, was dem­nächst für wahr erklärt werden wird. Die­selbe Ar­gu­men­tationstaktik finden wir beim leninistischen Glau­ben daran, daß die Partei immer Recht hat, wenn prozedural richtig durch das Po­lit­bü­­ro entschieden wurde. Der for­mel­le Ausweis zum Be­sitze der ma­te­riellen Wahrheit war von alters her mit der An­wen­dung ge­re­gelter Pro­zeduren untrennbar verbunden. Ohne bindende in­halt­liche Vor­ga­be galten als berufene Verkünder von Wahrheit Päp­ste, zum König Ge­salbte ebenso wie Vorsitzende von Politbüros.

An anderer Stelle muß Ha­bermas die Para­doxie seiner Theorie selbst eingeste­hen: "Unter modernen Bedingun­gen kom­ple­xer Gesell­schaften, die in weiten Berei­chen ein interes­se­geleitetes, mit­hin ein normativ neutrali­siertes Handeln erfordern, ent­steht jene para­doxe Si­tua­ti­on, in der das ent­schränkte kommunikative Han­deln die ihm zu­fallende Bürde der sozialen Inte­gration wieder abwälzen noch ernst­lich tragen kann. Aus eigenen Res­sourcen kann es das in ihm an­ge­legte Dissensrisiko allein durch Risiko­steige­rung zäh­men, näm­lich da­durch, daß Diskurse auf Dauer gestellt wer­den." [21] Da ist es al­so, je­nes immerwährende Ge­spräch als die zentra­le neue Nor­ma­ti­vität. Ihr müssen Werte funktio­nal zugeordnet werden, ohne deren Gel­tung dieses immerwährende Gespräch nicht stattfinden könnte: die freie Mei­nungsäuße­rung, die allgemeine Kommunikati­onsfähigkeit und an­dere. Die Schluß­folge­rung, wer interesse­geleitet handele, ver­halte sich normativ neutral, ver­kennt den typischen Vor­gang, jedes in­teres­segeleite­tes Handeln nor­ma­tiv zu über­höhen, um es so gerade nicht als interesse­bedingt und willkürlich erscheinen zu lassen.

Das Ausweichen vor einer Ent­scheidung durch immerwährendes Ge­spräch ist aber für sich genom­men auch bereits eine Ent­scheidung: Es stabi­lisiert die gegen­wärti­gen Ver­hältnisse. Ausgerechnet ein Ha­ber­mas vernebelt mit sei­ner kom­muni­kativen Rechtstheo­rie deren Ur­heber und Nutznießer, dessen Jünger so stolz auf ihren Meister wa­ren. Der junge Ha­bermas hatte den herr­schaftsfreien Diskurs gefor­dert und immer wieder ver­schlei­erte Her­rschaftsstrukturen auf­ge­deckt. Alt gewor­den hat ihn der emanzipatorische Elan offenbar ver­las­sen: Statt auf die Medien­praktiker und ihre Geldherren hin­zu­­wei­sen, beeilt Ha­­ber­­mas sich heute, seine kom­muni­kative Vernunft "nicht län­­ger dem ein­zel­­nen Ak­tor oder einem staat­lich-ge­sell­schaft­li­chen Ma­­krosubjekt" zu­­zu­schrei­ben. Da­hinter steht offen­bar die Idee, nicht ein­zel­ne Men­schen oder Verbände seien die Lenker und Nutz­ni e­ßer der modernen Kom­­muni­kationsgesell­schaft, son­dern es herr­sche ge­wis­sermaßen die Kom­mu­nika­tion bzw. die Vernunft selbst. So ver­­schleiert der große Kom­­munika­tor nur seine tatsächlicher Nor­mie­rungs­macht, um den Dis­kur­sunterworfe­nen die Illusion der Herr­schafts­freiheit zu schen­ken.

Die Bediener der großen Kommunikationsmaschine möchten gern so weit im Hintergrund bleiben, weil sie gerade aus ihrer Tarnung und der Il­lusion, es gebe gar keine Herrschaft mehr, ihren Vorteil ziehen. Der un­sichtbare Machthaber ist unan­greifbar. Sie reden daher dem Pub­li­kum ein, wenn alle nur immerfort miteinander reden würden, bis sie sich einig sind, gebe es überhaupt keine entscheidende, also norm­set­­zende und damit herr­schende Person oder Gruppe mehr. Es herr­sche nur noch die kommunika­tive Ver­nunft selbst, und die könne kei­nem "ein­zelnen Aktor" oder "staatlich-gesell­schaftlichem Makro­sub­jekt" mehr zugeschrieben werden: "Es ist vielmehr das sprachliche Me­di­um, durch das sich Interaktionen vernetzen und Le­bensformen struk­­tu­­rie­ren, welches kom­mu­nikative Ver­nunft ermöglicht." [22] Wir dür­fen uns demzufolge freier fühlen, wenn wir nicht mehr von Men­schen be­herrscht werden, sondern von einem "Medium"! Leider ist die Herr­schaft solcher normati­vistischer Fiktionen die allergefährlich­ste: Sie verbirgt ihre Urheber hinter einem inhaltslosen Wortschwall.

Nur diejenigen juridischen Gesetze könnten "legitime Geltung be­an­spru­chen, die in einem ihrerseits rechtlich verfaßten diskursiven Rechtset­zungs­prozeß die Zu­stimmung aller Rechtsgenossen finden können," weil sie mit anderen Worten "im Lichte r ational gerecht­fer­­tigter und daher uni­versalisti­scher Grundsätze konstruiert und fort­ge­­bildet werden können." [23] Damit nährt Habermas erneut die schon von Carl Schmitt widerlegte Fik­tion, in ei­nem rechtlich verfaß­ten dis­kur­­siven Prozeß könnte in jedem Fall so etwas wie ein allen wi­der­strei­­­tenden Interessen genügendes Ergebnis erzielt wer­den. Es gibt eben Fra­gen und existentielle Interessen­ge­gen­sät­ze, die sich nicht in ratio­naler Entscheidung allein diskursiv lösen lassen. Ty­pisch libe­ral ist es Carl Schmitt zufolge, den Begriff des Feindes von der wirt­schaftli­chen Seite her zum ökonomischen Konkurrenten und von der ethi­schen Seite in einen Diskussionsgegner aufzulösen. Daß es in der Realität unvereinbare Interes­sengegen­sätze bis hin zur existentiellen Feindschaft geben kann, paßt nicht ins Konzept - schlimm für die Wirk­lichkeit. Daß es auch unter Rechts­genossen und Bürgern wi­der­streitende Interessen gibt und daß sogar in je­dem einzel­nen das In­te­gri­tätsinter­esse am Ganzen und das unmittelbare Eigeninteresse wi­derstreiten, [24] hat Ha­bermas vergessen. Dabei war gerade er "sich einmal völlig bewußt, daß das Parlament 'zu einer Stätte wurde , an der sich wei­sungsgebundene Parteibeauftragte treffen, um bereits ge­trof­fene Entschei­dungen registrie­ren zu lassen.' Und er war so frei, hinzu­zufü­gen: 'Ähnliches hatte schon Carl Schmitt während der Wei­marer Republik be­obachtet.'" [25]

Im wirklichen "recht­lich verfaß­ten Recht­set­zungs­prozeß" be­­finden sich aber nicht philo­so­phieren­de Kommunika­toren mit­ein­ander in im­­merwäh­ren­dem Ge­spräch auf Wahrheitssuche. Tat­sächlich tref­fen im Par­lament als dem Fo­rum, in dem Recht gesetzt wird, ver­schie­de­ne fraktionierte Interes­sen auf­ein­ander. Hier setzen sie sich mit Mehr­h­eit durch oder schließen, wenn eine Fraktion allein keine Mehr­­­heit hat, auf Grundlage vorhan­dener Inter­es­sen Kompromisse ab. Was für das Par­lament im Kleinen gilt, gilt für die Gesellschaft im Gro­­ßen. Einen ge­samt­gesell­schaftlichen Kommuni­ka­tions­pro­zeß zwecks rationaler Fin­dung all­ge­meiner Nor­men gibt es in der Rea­li­tät ganz einfach nicht. Vielmehr sto­ßen Interessen auf­ein­an­der, und aus ih­rem Konflikt gehen Re­sul­tate hervor. Habermas' Neu­auf­­lage der alt­backe­nen libe­ra­len Har­mo­nie­lehre nimmt diese Kon­flikte, In­ter­es­sen­ge­gen­sätze und Ent­schei­dungs­­­­zwän­ge aus der Per­spek­tive des kon­­sens­stif­tenden Dis­kur­­ses nur noch mit Argwohn wahr. [26]

Die Kommunikationstheorie hat eine idealistische Note, die ge­spen­stisch anmu­tet: Sie geht vom Sollensprinzip des totalen Dis­kur­ses aus und will da­durch die herrschaftsfreie Gesellschaft erzie­len: Das heißt die Ge­sellschaft, bei der die einzel­nen Personen mög­lichst frei sind, womit wie­derum gemeint ist: keinen Normen un­ter­worfen, an deren Gel­tung sie nicht als Normgeber mitgewirkt haben. Das Irreale an die­ser Theorie besteht darin, daß sie fin­giert, tat­sächlich seien alle Mit­­glie­der ei­ner Gesellschaft diskursfähig, dis­kurswillig, und vor al­lem, be­reit, auch alle anderen am Diskurs teilnehmen zu lassen. Da­von kann natürlich in der Wirk­lichkeit keine Rede sein. Es fehlt schon prak­tisch an der für das wirkliche Funk­tionieren der Theorie nötigen all­gemeinen Diskurs- und Kommunikations­fähigkeit. Dis­kurs­theo­re­ti­ker wie der Amerikaner Parsons betonen "im Zu­sam­men­­hang mit der Herausbil­dung einer Zivilgesellschaft als der Basis für die öf­fentlichen und inklusiven Mei­nungs- und Willensbil­dungs­pro­zes­se freiwillig as­so­ziierter Rechts­genos­sen schließ­lich die Be­deu­tung der Ega­lisierung von Bildungschancen, über­haupt der Ent­kop­pe­lung des kultu­rellen Wis­sens von Klas­senstrukturen." [27]

Damit versucht die Diskurshypothese ihr spezi­fisches Di­lem­ma, al­so das Para­doxon des ei­genen inneren Wider­spruchs zu lö­sen: Weil sie ihren eige­nen Vor­aus­setzungen nach nur unter der Prämisse wirk­­lich funk­tionie­ren kann, daß alle Dis­kurs­teilnehmer kom­mu­ni­ka­tions­­fähig sind, muß sie diese Kommunikati­ons­teil­neh­mer im Zwei­fels­­fall durch entsprechende Bildung erst kommunikati­onsfahig ma­chen. Sie sieht sich vor die funktio­nale Auf­gabe de r Gesellschafts­veränderung und Ega­­li­sie­rung ge­stellt, um ihren Normen das Bett zu bereiten. Sie hebt sich so mit ih­ren Vor­ausset­zungen selbst wieder auf: Die erfor­der­li­che Egali­sierung zur Herstel­lung der Kom­muni­­ka­tions­fä­higkeit aller Rechts­genossen steht nämlich im Wi­der­spruch zum Anspruch nor­ma­tiver Wert­frei­heit und zum Pluralismus­an­­spruch, bei­des zentra­le Po­stu­late zum Beispiel der Habermas'schen Dis­­kurstheorie. Ihr Pa­ra­do­xon und unentrinnbares logisches Dilemma wird deutlich durch die Fra­ge: Wenn schon Wertneutralität: Warum nicht auch Men­schen, die nicht kommunizieren?

 

Folgendes Kapitel: Die funktionalisierte Kommunikationsmacht



[1] Donoso Cortés, Essay, S.126.

[2] Habermas, Faktizität und Geltung, S.231.

[3] Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, S.10 f.

[4] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S.66.

[5] Comte, Die Soziologie, S.388.

[6] Stirner, Der Einzige, S.119.

[7] Kondylis, Blühende Geistesgeschäfte, FAZ 28.12.1995.

[8] Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, 5.Buch, Ziff. 89, 105.

[9] Machiavelli, Der Fürst, XV, S.119.

[10] Kondylis, Macht und Entscheidung, S.120; vgl. Welzel, Naturrecht, S.243.

[11] Donoso Cortés, Essay, S.110.

[12] Habermas, Faktizität und Geltung, S.137.

[13] Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage, S.69; unten im Abs. ebd. S.18.

[14] Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage, S.46.

[15] Habermas, Faktizität und Geltung, S.278.

[16] Christoph Schönberger, in: Der Staat, Bd.33, 1994, Heft 1, S.124.

[17] Kondylis, Macht und Entscheidung, S.78.

[18] Kondylis, Macht und Entscheidung, S.111 f.

[19] Kondylis, Macht und Entscheidung, S.79

[20] Habermas, Faktizität und Geltung, S.24.

[21] Habermas, Faktizität und Geltung, S.51.

[22] Habermas, Faktizität und Geltung, S.17.

[23] Habermas, Faktizität und Geltung, S.141, 97.

[24] Kunze, Der totale Parteienstaat, S.186 f.

[25] Maschke, Sankt Jürgen und der triumphierende Drache, S.148 mit Hinweis auf Habermas, Zum Be­griff der politischen Beteiligung (zuerst 1961), in: ders., Kultur und Kri­tik, 1973, S.28.

[26] Schönberger, Der Staat, Bd.33, 1994, Heft 1, S.126.

[27] Habermas, Faktizität und Geltung, S.102 über T.Parsons, The System of modern Societies, 1971, S.97.