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Lebensbilder aus dem alten Weserbergland von Klaus Kunze Folge 7 1754: Die Totenklage des Christian Friedrich Fuchs
Je länger vergangene Zeiten zurückliegen, desto schwerer fällt es uns, die Gefühlswelt unserer Altvorderen nachzuvollziehen. Zwar sind wir durch die in Kirchenarchiven überlieferten Kirchenregister oft recht gut über die Lebensdaten der Menschen unterrichtet. Uns fehlen aber über ihre Persönlichkeit, schon gar über ihre Gefühlswelt, meistens alle Anhaltspunkte. So mag man sich kopfschüttelnd fragen, ob die Menschen früherer Epochen mit genau denselben Empfindungen auf Schickssalsschläge reagiert haben wie wir, oder ob sie zu Leid, Schmerz und Tod ein anderes Verhältnis hatten. Immerhin trennen uns Jahrhunderte von ihnen, und man mag sich denken, daß jeder Mensch durch seine Epoche kulturell geprägt ist und daß möglicherweise die Reaktion auf den Tod nahstehender Personen anders gewesen sein könnte als heute. In der Mitte des 18. Jahrhunderts waren im Solling Familien mit fünf bis über zehn Kindern der Regelfall. Zu diesem Normalfall gehörte aber auch, daß wenigstens die Hälfte dieser Kinder bereits im Kindesalter starb. Die Kirchenbücher geben uns immer wieder Beispiele dafür, wie durch Infektionskrankheiten, oft kurz hintereinander, die Kinder einer ganzen Familie wegstarben. Wie haben die Eltern das verkraftet? Waren sie durch das rein zahlenmäßig eindrucksvolle ständige Kommen und Gehen von Kindern, die fast jährliche Geburt eines weiteren Kindes, aber auch das regelmäßige Sterben von Kindern, innerlich verhärtet, waren sie abgebrüht? Daß Ehemännern mit zwei oder drei Frauen nacheinander verheiratet waren, weil sie immer wieder Witwer wurden, stellte den Regelfall und nicht die Ausnahme dar. Ging Eltern der Tod Ihrer Kinder, ging Gatten der Tod Ihrer Frauen weniger nah als uns Heutigen? In Kirchenbuch von Bodenfelde befinden sich Aufzeichnungen des damaligen Pfarrers Fuchs, die inhaltlich unendlich traurig, für uns aber ein Glücksfall sind, weil sie uns einen Einblick in die Gefühlswelt eines Ehemannes und Vaters aus der Epoche um 1750 geben. Mit diesem Einblick sind alle Fragen und Zweifel schlagartig beseitigt, ob die früheren Menschen möglicherweise anders, roher vielleicht, empfanden als wir. Pfarrer Christian Friedrich Fuchs war 1712 in Neindorf als Sohn des dortigen Pfarrers Johannes Fuchs und seiner Ehefrau Maria Katharina Hävicker geboren wurden. 1732 hatte er an der Universität Helmstedt sein Theologiestudium begonnen und war seit 1747 Pfarrer in Wahmbeck. Im selben Jahr heiratet er in der Marktkirche in Hannover seine 21jährige Braut Maria Margaretha Wiebe. Von 1753 bis 1774 amtierte Fuchs als Pfarrer in Bodenfelde, wo er am 5.12.1774 starb. Anlaß unserer Betrachtungen sind der Tod der jungen Ehefrau 1753 und aller drei Kinder aus der Ehe. Am 26.4.1754 heiratete Fuchs in Bodenfelde als Witwer Justine Theodora Telgmann. [1] Nach dem Tode seiner jungen Ehefrau 1753 schrieb Pfarrer Fuchs folgendes ins Sterberegister des Kirchenbuches von Bodenfelde: [2] Den 19. Juni ist meine geliebte Frau,
Maria Margaretha geborene Wiebe, aus Hannover gebürtig, nachdem sie 5½ Jahr in
vergnügter Ehe gelebt und mit ihr gezeuget drei Kinder, nämlich zwei Söhne und
ein Töchterlein, an der unheilbaren Schwindsucht oder Hectic
[3]
,
woran sie bereits etliche Jahre laborieret, in der 12. Woche nach ihrer letzten
Niederkunft und zwar im 27. Jahre dero Alters mit standhaftem Mute und großer
Freudigkeit in dem Herrn selig verschieden. Und da der Todesfall annoch zu
Wahmbeck kurz vor meinem Abzuge geschahe, so wurde der entseelte Leichnam
Freitags darauf, war der 22. desselben Monats, des Morgens in der Stille in dasiger
Kirche beerdiget und daselbst auf dem Chore neben dem Altar an der Nordseite
gleich bei der Ruhestätte ihres vor dem Jahre in die Ewigkeit vorangegangenen
geliebten Söhnleins Johann August zu meiner größten Betrübnis und Leidwesen
beigesetzet. Der mit ihr erzeugten Kinder sind:
1) Laurentius Heinrich, geboren 1748 den
21. September, getauft 24.
2) Johann August, geboren 1751 den 27.
Februar, gestorben 1752 den dritten Februar
3)
Wilhelmina Louise Carolina, geboren 30. März 1753
[4]
Trost=Gedanken
Sie lebt und oh, wie frei von Sorgen
Vor mich und meiner Sorgenlast!
Sie ist im sichern Port geborgen,
Wenn mich ein schweben Schiff umfaßt.
Sie schmeckt bei seelger Geisterscharen
Die Frucht von kurzen Probejahren,
Die hier den edlen Geist bewährt.
Da mein Geist irdisch eingeschlossen
Bei seiner Bande Mitgenoßen
Noch manchen Prüfungstag erführt.
Nicht dich, nicht dich soll unser Leid
beklagen
Dein ist die Ruh, und unser bleibt die
Last
Woll ewig dein, der so, wie du getragen,
Der so vollbracht, wie du vollendet
hast.
Herr Schaff ein Herz, das ohne Tränen
lobe
Der Herr mein Gott warf mich nicht ganz
zurück.
Ein jedes Kind ist ja des Segenproben
Ein Bild, ein Teil, ein Rest von einem
Glück.
Verjüngte Kraft stärkt meiner Mutter
Leben
Ihr Beistand mich. Das hat der Herr
gegeben.
Hinter der Zeile mit der Mutter folgt eine Fußnote: Diese
meine leibliche Mutter, welche 1693 geboren wurde, lebt, Gott sei Dank, bei mir
in vollkommener Leibes- und Gemütskräften und versiehet die Haushaltung.
Ein Jahr später 1754 schlug das Schicksal noch erbarmungloser zu. Der Gott, der den Bodenfelder Pfarrer beim Tode seiner Frau „nicht ganz zurückgeworfen“ hatte, beugte ihn noch tiefer. Ein Kind war aus dem Ehesegen hervorgegangen, ein Bild der Geliebten, ein Teil von ihr, ein Rest seines Glückes, wie Fuchs reimte. Übers Jahr aber schrieb er voller Schmerz ins Kirchenbuch: Den
15. Juli, abends zwischen neun und zehn Uhr, ist mein herzlich geliebtes
einziges Kind und Söhnlein, Laurentius Heinrich, nachdem es vom 10. des selben
Monats an denen Frieseln, wozu annoch die sogenannte Bräune am Halse
[5]
gekommen, krank darniedergelegen, zum meinem und meiner lieben Frauen,
besonders aber seiner so liebgewesenen Großmama, gerechten Schmerz und
innigster Betrübnis, sanft und selig verstorben. Der verblichene Körper, den
wir sämtlich so lange wie Gott will annoch in seiner Gruft und Asche lieben und
verehren werden, wurde den 18. darauf des Morgens in der Stille zu seiner
Ruhestätte gebracht und benebst denen Gebeinen seines vorher aus diesem Jammertale
gegangenen Schwesterleins, alwo D.V. eine Sakristei anzulegen gedenken,
beigesetzet. Alters fünf Jahr neun Monate drei Wochen und drei Tage.
Ach
Gott! Wie hast du in einem Wort mich durch diesen Todesfall gebeuget! Ein Knabe
von guter Art, Hoffnung, Gesichtsbildung
und annehmender Klugheit und Verstandes, der einzige Blutstropfen von meiner
lieben seligen Frauen, ein einziges Kind außer dem keines mehr vorhanden, und
das einmal der Erbe aller unserer Güter werden sollen, nachdem es bereits von
seiner lieben Stief-Mama, die noch zur Zeit kein Kind gehabt, dermaßen geliebet
worden, daß sie es zum Universalerben ihres Eingebrachten in denen pactis
dotalibus förmlich eingesetzet, ja ein Kind, das wegen seiner besonderen
Munterkeit bis daher in der Einsamkeit und Betrübnis uns aufrichten und unser
Haus beleben konnte, das sage ich, ist nunmehro dahin und ohne Leben!
Ach
Gott, komm uns doch mit deinen künftigen Tröstungen zu Hülfe und gewähre mir
den Wunsch und die demütige Bitte:
Daß
ich dieses mein verlorenes Kind, benebst seiner vorangegangen lieben seligen
Mutter, wie auch dessen Geschwister in der seligen Ewigkeit wiederfinden dero
selbst vergnügten Umganges wiederum genießen und aus sämtlich in deinen seligen
Anschauen in alle Ewigkeit erfreuen mögen! Amen.
[Diese Folge ist auch erschienen in: Sollinger Heimatblätter, Ausgabe 2/2012, S.5-7, Hrg. Sollingverein Uslar e.V..
[1] Geboren in Duingen als Tochter des Pfarrers Johann August Telgmann und der Catharina Maria Gundelach. Sie war bei ihrer Heirat 1754 Witwe des Pfarrers Johann Conrad Klingsöhr, gewesenen Pfarrers in Lauenberg (*Elvershausen 1697, † am 19.9.1752 in Lauenberg, ¤ Adensen 31.10.1736). [2] Der Text wurde den heutigen orthographischen Gepflogenheiten angepaßt, ohne die Worte zu verändern. [3] Beides bezeichnet die Tuberkulose, an der im 18.Jahrhundert in Bodenfelde so viele Menschen starben, vor allem Erwachsene, daß man von einer permanenten Durchseuchung ausgehen muß. [4] Auch dieses Kind starb, und zwar am 30.7.1753 an einer Brustkrankheit. [5] Das Kind wird Diphterie gehabt haben. Bis Ende des 19. Jahrhunderts waren die Menschen der lebensgefährlichen Infektionskrankheit ohne Impfschutz hilflos ausgeliefert. |
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