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Lebensbilder aus dem alten Weserbergland von Klaus Kunze Folge 9 1761: Von der ehrbaren Jungfrau zur wollüstigen Witwe Wenig Ärgerlicheres gab es für Pfarrer des 18. Jahrhunderts als uneheliche Kinder. So gut wie jedes wurde mit dem Schmähwort „Hurenkind“ ins Taufregister eingetragen, und es waren ihrer zu jeder Zeit viele. Vor diesem zeitbedingten Hintergrund klaffen Welten zwischen dem von alten Kirchenbüchern vermittelten offiziellen Bild und dem damaligen wirklichen Leben. Über dieses wissen wir nicht allein durch die schiere Anzahl unehelicher Kinder bescheid, sondern auch durch den 1778 in Hannover geborenen Soldaten August Schaumann, der uns mit seinen Lebenserinnerungen [1] ein anschauliches Bild vermittelt. Er war als Soldat der hannoverschen Armee lange in Südniedersachsen eingesetzt und hatte buchstäblich in jedem Garnisonstädtchen oder Dorf ein Mädchen. Will man den Erzählungen des damals jungen Herzensbrechers glauben, war es ein Leichtes für einen jungen Soldaten, ein Mädchen rumzukriegen. Die hannoversche Armee des 18. Jahrhunderts war nicht kaserniert. Die Regimenter der Musketiere, der Grenadiere und Dragoner waren über das Land in Bauernquartieren verteilt, und war des Sommers nicht gerade ein Krieg, hatten die Soldaten Heimaturlaub zum Helfen bei der Ernte. Das an der Landesgrenze zu Kurhessen liegende Bodenfelde hatte immer verhältnismäßig viele Soldaten zu beherbergen, und die Mädchen scheinen sich geradezu die Augen nach ihnen ausgeguckt zu haben. Uneheliche Kinder gab es jedes Jahr, und manchmal wurde sogar später geheiratet. Es wurden aber schon damals Ehen gebrochen. Anna Margarethe Hartmann
[2]
hatte
1720 den in Göttingen im Quartier liegenden Soldaten Johann Heinrich Müller
[3]
geheiratet, wußte wohl aber nichts mit ihm anzufangen. Kinder gab es keine. 1722
schon war sie ihrem Mann aber fremd gegangen mit Christoph Blomeier aus Wiensen.
Der Pfarrer nannte sie
eine leichtfertige, ehebrecherische Hure, nachdem sie ihrem
Manne Johann Heinrich Müller einem zu Göttingen in Quartier liegenden Soldaten,
der sie, seiner eigenen Aussage nach, in 3 Jahren nicht erkannt
[4]
, zu
Einbeck
im
Posthause,
darin sie gedienet, mit Christopher Blumeyer, einem Postknecht aus Wiensen
bürtig, Hurerey getrieben.
Das erzeugte Kind hieß Ernst Christopher
und wurde am 17.12.1722 geboren.
Damals wie heute achteten Bräutigame darauf, wen sie heirateten. Ein uneheliches Kind stand keiner Braut gut an, und eine von einem anderen Mann Schwangere mochte man nicht unbedingt mehr haben. Sophia Charlotta Spellerberg [5] war 1735 verlobt gewesen mit Johann Julius Spörhase aus Settmarshausen. Sie hatte aber 1730 schon am 15.September Zwillinge geboren und als Vater angegeben einen „Jägerburschen mit Namen Jäger“. Das glaubte ihr natürlich keiner. Ihr Verlobter Spörhase fiel 1735 aus allen Wolken, als sie
sich schon wieder als schwanger entpuppte, doch er wußte: Er konnte es nicht
gewesen sein. Er löste die Verlobung, und die Schwangere zog am 4.8.1735 an einen
anderen Ort, um der Kirchenbuße zu entgehen. Sie kam aber am 17.8. mit einem
weiteren Manne zurück, Andreas Jürgen Breithaubt, Schneider aus Settmarshausen. Er
war wohl der Vater des am 8.10.1735 geborenen Kindes Henrich Christopher.
Breithaupt heiratete sie am 15.8.1735, und zwar vorsichtshalber zu Etzenborn,
also außer Landes. Dieser bekannte sich später vor dem Superintendenten als
Vater des Kindes. Der unbekannte „Jägerbursche namens Jäger“ hatte ausgedient.
Es ist äußerst schwer zu beurteilen, ob es regelrechte Prostitution gab, obwohl der Pfarrer bei jedem unehelichen Kind zürnend die Mutter im Taufbuch eine Hure nannte. Wir dürfen vermuten, daß jedenfalls Gefälligkeiten bei den Frauen des Örtchens gut ankamen, zumal wenn ein Soldat schmuck aussah und die Zeiten schlecht waren. Das waren sie allerdings oft, besonders in Kriegszeiten. Bodenfelde wurde im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) zweimal von Franzosen besetzt und ausgeplündert, wobei den Bewohnern wenig blieb. In dieser schlimmen Zeit lebte Maria Catharina Becker, am 24.11.1723 geboren als Tochter des Fischers Hans Jürgen
Becker und seiner Frau Anna Maria Heistermann.
[6]
Als sie
am 3. Mai 1754 mit Johann Christoph Bock heiratete, bezeichnete der Pfarrer sie
als ehrbare und achtbare Jungfrau. Sie gebar ihrem Mann 1746, 1747 und 1752
Kinder. Als dieser aber 1756, erst 35 Jahre alt, an hitziger Brustkrankheit
starb, begann, was wir heute als sozialen Absturz bezeichnen würden.
Wir dürfen schon aufgrund des
Altersunterschiedes wirklich zweifeln, was sie trieb, sich mit dem sieben Jahre
jüngeren Heinrich Jürgen Zensing (*24.7.1730) einzulassen. Vielleicht hatte der
Pfarrer sogar recht, als er empört ins Taufbuch schrieb:
Den 16. Januar 1759 hat Maria
Catharina Bock, seligen Johann Christoph Bocks nachgelassene wollüstige Witwe,
aus Hurerei ein Töchterlein zur Welt geboren, welches den 17. darauf getaufet
wurde und den Namen Maria Elisabeth empfangen hat. Gevatter war Margarethe
Elisabeth Spellerberg. Der Vater dieses Kindes soll sein: Heinrich Jürgen
Zensing.
[7]
Die weibliche Selbstbestimmung war
noch ebensowenig erfunden wie die Idee, Geschlechtsverkehr könnte einen Sinn
für sich haben und nicht nur der von der Bibel geforderten Fortpflanzung („Seid
fruchtbar und mehret euch!“) dienen. Die offene Formulierung „wollüstig“ aber war
selbst für das 18. Jahrhundert starker Tobak. War etwas dran?
Jedenfalls dauerte es nicht lange,
da avancierte Maria Catharina in den Augen des Pfarrers zur herumhurenden „wohlberüchtigten
Witwe“, einer Gattung, die angeblich bis heute in Bodenfelde nicht ausgestorben
sein soll:
In der Nacht zwischen dem 9. und dem 11. Oktober 1761 hat
die durch ihre unersättliche Wollust und Hurerei bei hiesiger Gemeinde sich
berüchtigt gemachte unverschämte Witwe des seligen Johann Christoph Bock, Maria Catharina Beckers, abermals aus Hurerei ein Knäblein
geboren, welches nach Aussage der
Bademütter
tot zur Welt gekommen sein soll. Der Vater ist dem Vorgeben nach der Feld-Jäger
unterm Stockhausen’
schen
Corps namens Jacob Kirchner.
Und beim Begräbnis dieses Kindes hieß es: 12.10.1761 das in Wollust und
Hurerei erzeugte und tot zur Welt gebrachte Knäblein der wohlberüchtigten Witwe
…
Offenbar traute der Pfarrer auch den
Angaben der Hebammen nicht recht über den Weg, das Kind sei tot gewesen. „Sind
‚wohlberüchtigte Witwen’ in Bodenfelde nicht zu allem fähig?“, mag er sich
gefragt haben. Denn nicht jedes uneheliche Kind durfte leben. Es wurden wohl mehr
umgebracht als das offizielle Kirchenbuch vermeldet. Manchmal aber wurde es
offensichtlich. Am 23.5.1764
wurde nachmittags in der Weser unter den sogenannten sieben
Eichen ein ermordetes, jüngst geborenes Kindlein männlichen Geschlechts
gefunden, welches den 25. darauf, nachdem es vorher in Christoph Hessens Hause
von Herrn Landphysicus und Professor D[r.]. Vogel in Göttingen
[8]
in Gegenwart des
Amtmanns besichtiget, auf hiesigem Kirchhofe begraben worden.
[1] August Ludolf Friedrich Schaumann, Kreutz und Quer Züge, Leipzig 1922.
[2]
Tochter des Reiter Franz Hartmann und der Anna Ilsabei Ahrens.
[3] Johann Heinrich Müller, geboren Volkmarshausen, Sohn des Ackermannes Hans Christopher Müller. [4] Das Ehepaar hatte 3 Jahre keinen Geschlechtsverkehr.
[5]
Sophia Charlotta Spellerberg *16.7.1705 Tochter von Johann Christoph
Spellerberg und Anna Euphrosina Dietrich.
[6] Sie starb am 17.1.1803
[7]
Diese Tochter des Grenadiers Zensing mit Maria Catharina Becker heiratete am 11.6.1786 Moritz Helwig und starb am 23.12. 1790
nach einer Entbindung im Alter von 30 Jahren.
[8]
Rudolph Augustin
Vogel *
Erfurt
1724, †1774, siehe Carl Joseph Bouginè, Handbuch der allgemeinen Litterargeschichte, 5.Bd.,
Zürich 1792, S.42. Zu seiner Vita im einzelnen: Karl Arndt, Gerhard Gottschalk, Rudolf Smend,
Göttinger Gelehrte: Die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. 1,
Göttingen 2001, S.36.
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